Woran liegt es, dass nicht nur schadensfreudige Naturen auf der ganzen Welt so viel Freude am Ärgern haben, wenn die Mitspielerinnen und Mitspieler sich die Haare raufen, wie bis heute der Mann auf dem Cover, oder wenn das eigene Kind nicht verlieren kann und die Pöppel vom Spielplan fegt, wie der kleine Heinz-Rüdiger im Fernsehsketch von und mit Gerhard Polt (1979).
Alter Brettspielklassiker "MäDn" für 4 oder 6 Spieler
Ausgangspunkt für "Mensch ärgere Dich nicht" in Indien
Das alles geht schon seit vermutlich 6.000 Jahren so, wie ein in Stein geritztes Pachisi mit den kreuzförmigen Linien zeigt. Es wurde 2006 am Indus als Teil der Harappa-Kultur (Indus-Kultur, 2800-1800 v. Chr.) ausgegraben und symbolisiert unsere Erde mit den vier Himmelsrichtungen.
Pachisi ist in Indien weit verbreitet und beinhaltet Grundüberzeugungen des hinduistischen Glaubens: Der Mensch kommt aus der Mitte – dem Nirwana – auf die Erde, durchläuft sie auf seinem Lebensweg mit vielen Hindernissen, muss sich wehren – kehrt wieder ein ins Nirwana, und er wird wiedergeboren! Er darf neu anfangen, wenn er rausgeschmissen wurde.
Diese ewig hoffnungsvolle Spiel-Variante: Der Mensch hat Schwierigkeiten, aber er darf neu anfangen, gab und gibt es in vielen Spielen – auch schon bei den Mayas in ähnlicher Form als “Patolli“. Ist es das, was das „MäDn“ und hunderte von ähnlichen Spielformen weltweit für Jung und Alt so attraktiv macht?
Vielfältige Varianten des Spiels
Viel spricht dafür, denn Joseph Friedrich Schmidt, der 1907 in München das Spiel gegenüber den damals in Deutschland bekannten Pachisi-Varianten z.B. „Eile mit Weile“ und „Ludo“ radikal vereinfachte und damit schneller machte, um seine Familie mit den drei Söhnen in einer engen Wohnung spielerisch zu beschäftigen, hatte zunächst wenig Erfolg bei dem Versuch selbst hergestellte Exemplare zu verkaufen.
Erst als er sich entschloss, 3.000 „MäDn“s als Sachspende an die Lazarette und an die Soldaten an der Front zu geben, wurde das Spiel im roten Karton mit den mit den rot/schwarz/grün/gelb-lackierten Holzpöppeln in Deutschland populär. In Dankesbriefen aus den Lazaretten und Feldpostkarten aus den Schützengräben an der Front im 1. Weltkrieg erreichte F. J. Schmidt ein überwältigendes Echo: „… und haben bis Gefechtsbeginn ununterbrochen gespielt!" – diese Postkarte erreichte die Lebenden dann später.
Bis heute ist das „Mensch Ärgere nicht“ bis auf kleine Farbwechsel im Wesentlichen, trotz unzähliger Kopier- und Konkurrenzversuchen mit Titeln wie: „Raus – gehört in jedes Haus!“, „Hoppla Tante“, „Wer wird denn weinen?“, „Die Nervensäge“, „Drunter und Drüber“, „Mensch bleib ruhig“, „Lache nicht zu früh“, „Behalt den Humor“ oder „Mensch hör auf“, unverändert und kann auch digital gespielt werden.
Brettspiel "Ludo" aus Großbritannien, 19. Jahrhundert
Aus "Ludo" wird "Mensch ärgere Dich nicht"
Es enthält auch nach wie vor eine koloniale Komponente: Die Engländer, die das Spiel in Indien kennenlernten, wo es noch heute besonders in Mittelindien und im Norden als „Pachisi“ – das „25 Punkte-Spiel“ bekannt ist (Man würfelte mit 6 Kaurimuscheln, wobei der beste Wurf: 25 Punkte zählte, wenn alle sechs Muscheln mit den Öffnungen nach unten zum Liegen kommen.), die Engländer beherrschten Indien von befestigten Punkten. Sie nannten das Spiel „Ludo“ – lateinisch: „Ich spiele“, und verlegten den Start der Spielerinnen und Spieler nach außen: Kleine Festungen –„geborgtes Zuhause“. Der symbolische Lebensweg mit ärgerlichen Hindernissen und hoffnungsvollen Neustarts bis zum erlösenden Ende in der Mitte blieb erhalten
Die Titelwahl des F. J. Schmidt hat sicher entscheidend zum Spielerfolg bis heute beigetragen, denn diese Worte, die jeden Menschen direkt ansprechen und Emotionen wecken, waren um die Jahrhundertwende eine geläufige Redewendung, die oft z.B. auf Postkarten mit Vexierbildern, auf Bierkrügen (s. Abbildung) – im Gastronomiebereich oder auch als Reaktion auf eine Steuerzahlungsaufforderung zur Staats-Einkommensteuer auftauchte.
Bierkrug "Mensch-ärgere-Dich nicht", 19. Jahrhundert
Feier zum 110. MäDn-Jubiläum
Das plattdeutsche Erfolgsstück: „Hamburger Nestküken“ von Hermann Hirschel und Otto Schreyer (1880), das immer ausverkauft im Carl-Schultze-Theater in Hamburg lief, hatte den Untertitel: „Mensch, ärgere Dich nicht!“ und kann als Auslöser dieses geflügelten Wortes gewertet werden. So war es eine beziehungsfreundliche Geste, dass Schmidt Spiele Berlin die Hamburger Schauspielerin Marie-Luise Marjan (Helga Beimer aus der TV-Serie Lindenstraße) zum 110-jährigen „MäDn“-Jubiläum auf die Nürnberger Spielwarenmesse 2024 eingeladen hatte.
Peter Lemcke und Marie-Luise Marjan auf der Spielwarenmesse 2024
Auf meine Frage: „Liebe Luise: Habt Ihr denn in der „Lindenstraße“ auch „Mensch ärgere Dich nicht“ gespielt? Kam die Antwort: „Ja - aber live bei den Dreharbeiten“! – und nach Louis Armstrongs Motto: „Ich lasse keinen Ärger an mich ran. Die Dinge leicht nehmen macht gesünder und glücklicher.“
Künstlerisch übersetzt hat das der norddeutsche neokonstruktivistische Maler Michael Mattern in seinem Bild von 2023: „Alterswerk Nr. 1 – mit den „MäDn“-Farben“ (s. Abbildung).
Michael Mattern: Alterswerk Nr. 1 (2023)
Schmidt Spiele GmbH hat zu seiner 2014 gelaufenen Wanderausstellung zum 100-jährigen Jubiläim: - Das “populärste Spiel der Nation“ gestern und heute -, eine ausgezeichnete Begleitbroschüre herausgegeben, die erfolgreich als Buch laufen könnte oder den nächsten Jubiläumsausgaben beigelegt werden könnte – Spieler und Spielerinnen würden sich freuen.
Peter Lemcke
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Manuel Santos Gelke (Otto in Benjamin Blümchen), Marie-Luise Marjan (Helga Beimer, Lindenstraße) und Axel Kaldenhoven (Schmidt Spiele) stechen die Jubiläumstorte an
Christian Ulrich, Florian Hess, Axel Kaldenhoven (Schmidt Spiele) und Jens Pflüger, Spielwarenmesse Nürnberg 2024