Faszination Spielen - Unsere Auszeit vom Alltag
Spielend erkunden und begreifen wir Menschen diese Welt. Mit unserer Fähigkeit des "Als ob", der Fiktion, erfinden wir Ordnungen und Regeln. Gesellschaftsspiele sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Wir lernen, Regeln zu adaptieren, passen uns an. Genauso können wir aber auch im Spiel Regeln hinterfragen, verändern, variieren, uns ein neues Spiel, ein neues Miteinander vorstellen.
Im Spiel probieren wir uns aus, suchen unsere Grenzen bei Fähigkeiten, Fertigkeiten oder auch emotionalen Herausforderungen. Spiele stiften uns Menschen den Optimismus. Mit der Tätigkeit des Spielens, den damit verbundenen künstlichen Herausforderungen, erschaffen wir uns einen Erlebnis- und Erfahrungsraum, der uns ein Ausprobieren erlaubt, ohne ernsthafte Konsequenzen. Wir erlernen Verhalten auf Vorrat, für zukünftige, reale Herausforderungen und das sehr indirekt mit viel Spaß.
Immer wieder und seit Jahren fragen Pressevertreter, Journalisten, Redakteure und Moderatoren unser Team von Spielwissenschaftlern, warum wir Menschen spielen. Im März 2023 nahm sich die Wissenschaftssendung "Planet Wissen" von WDR, SWR und ARD alpha des Themas "Faszination Spielen" mit einer Sendezeit von 58:09 Minuten an. Dadurch entstand ein TV-Beitrag, der die Vielfalt der Spielphänomene grob anreißt, aber viel ausführlicher sein kann, wie so manche, stark limitierte Zeitungsartikel oder Radiosendungen.
Annegret Montag, Pädagogin und Spielforscherin
Als Gesprächspartner eingeladen ins WDR-Studio zu Planet Wissen hatte der Moderator Jo Hiller die Spielforscherin und Pädagogin Annegret Montag und den Ludologen Prof. Dr. Jens Junge.
Prof. Dr. Jens Junge, Direktor des Instituts für Ludologie
Ebenso mit einem Einspieler zwischen den Gesprächen dabei, die Spieleautorin Rita Modl.
"Ich musste im Leben immer mit allen Leuten kooperativ sein und freundlich sein und deshalb mag ich kompetetive Spiele total gern, weil ich da mal die Sau rauslassen kann. Ich kann dann jemanden was wegnehmen, kann fies sein und kann für mich alleine gewinnen."
Bei einem guten Spiel haben alle die gleichen Startbedingungen, anders als im richtigen Leben.
"Regeln sind ja nicht nur zum Begrenzen sondern Regeln können ja auch etwas anderes ermöglichen, dass man anders denkt. Das ermöglicht auch ein Spiel, dass ich sage, ok, ihr dürft das, was am wahrscheinlichsten ist, nicht machen, also versucht es auf einem anderen Weg und dann müssen die Leute anfangen, kreativ zu sein."
Rita Modl, Spieleautorin
Tom Werneck leitet das Bayerische Spiele-Archiv in Haar bei München. Er ist ebenso mit einem kurzen Einspieler in der Sendung vertreten.
"Ich benutze das Spiel nicht um des Spielens willen, sondern weil ich mit dem Gegenüber etwas machen will. Mit dem spiele ich eigentlich. Wie reagiert der? Wie reagiert er auf meine Züge? Wenn ich mit ihm spiele, dann weiß ich nach ganz kurzer Zeit, welcher Charakter dahintersteckt."
Tom Werneck, Leiter Bayerisches Spiele-Archiv, Haar bei München
Die Fiktion, das "Als-ob" und das Phantasiespiel
Die Moderation und das Gespräch des TV-Beitrags beginnt mit der Frage von Friedrich Schiller (1759-1805), ob der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt?
Jens Junge antwortet darauf: "Wie sollen wir anders existieren? Wir können diese Welt nur spielerisch erfahren und begreifen. Das ist ein Urphänomen des Menschenseins und der Natur."
Jo Hiller: "Welche Rolle spielt die Phantasie dabei?" Jens Junge: "Ein ganz große Rolle! Wir brauchen das "Als-ob", wir denken uns was aus, wir leben aus der Kreativität und aus den Vorstellungen, die wir haben und nur damit erfinden wir Neues."
Jens Junge und das Phantasiewesen "Löwenmensch", mehr als 40.000 Jahre alt und damit das erste dokumentierte Spielzeug
Vor über 40.000 Jahren hat ein Steinzeitmensch mit einem spitzen Stein seine Phantasie von einem nicht existierenden Wesen in einen Mamutstoßzahn geschnitzt, so hat er den "Löwenmenschen" sichtbar werden lassen. Er schuf damals das bis heute älteste, dokumentierte Spielzeug, was sicherlich auch als Kunstwerk verstanden werden kann. Wobei die Kunst nach Konrad Lange ebenso ein Spiel ist, ein Illusioinsspiel (s. Konrad Lange: "Das Wesen der Kunst", 1901, S. 3 f.).
Tiere spielen - auch Hummeln
Spielende Katzen und Hunde kennt jeder Mensch. Die Vermutung, dass jedes Tier spielen könnte, untermauert eine Studie zu spielenden Insekten, speziell zu Hummeln. Im Fachmagazin "Animal Behaviour" (Tierisches Verhalten) erschienen 2022 die Ergebnisse zu den Verhaltensweisen von diesen puscheligen Brummern, die keinen direkten Nutzen haben können. Hummeln spielen einfach aus Freude, nicht um Nahrung zu suchen oder ein Versteck zu finden. Sie spielten mit unbelebten Gegenständen, mit Holzkugeln (s. ScienceDirect). 54 Stunden beobachteten die Wissenschaftler 45 Hummeln (Bumble Bees), die in dieser Zeit mit 910 Bällen spielten, indem sie sie durch die Gegend rollten.
Hummeln spielen, wenn in ihrem Verhalten kein Nutzen zu erkennen ist
Aufbau von Spielkompetenzen
Spielen ist ein Naturtrieb und so spielen auch wir Menschen. Kleinkinder beginnen mit dem Aufbau von Spielkompentenzen. Das senso-motorische Spiel oder explorative Spiel bildet die Grundlage. Wir lernen unseren eigenen Körper und unsere Sinne im Spiel kennen und erspüren, was wir können, ob und wie wir diese Welt, unsere Umwelt nutzen und verändern können. Dies beginnt mit dem simplen Greifen, Klappern oder Bewegen. Wir Menschen erspielen uns den Zugang zur Welt.
Nachdem wir als Kind zahlreiche Materialien kennengelernt haben, beginnen wir mit Konstrutionsspielen. Dinge zu stapeln und nach oben zu bauen, um sie dann später einstürzen zu sehen, können als gestalterisches Experiment betrachtet werden, wie ein Turmbau zu Babel. Wir möchten erleben, wie hoch wir hinauskommen. Wir bewegen uns zwischen Verbindung und Trennung, zwischen Aufbau und Zerstörung. Wir beginnen uns Ziele zu setzen und müssen dafür planen und ausprobieren, wie der Weg zum Ziel ist.
Konstruktionsspiel bei Kindern
Mit der Sprachentwicklung beginnen Kinder die Welt zu deuten. Gegenstände bekommen eine Bedeutung. Ein Holzklotz kann zum Brot werden. Wir beginnen mit dem Spiel des "Als-ob". Eine verblüffende Leistung, die das menschliche Gehirn anfängt zur Gestaltung des Lebens zu nutzen. Wir stellen uns Dinge vor, dies es real nicht gibt und handeln danach. Es beginnt damit, dass wir Situationen nachspielen, die wir im Alltag erlebt haben. Wir erspüren das Spannungsverhältnis zwischen Abhängigkeit und Freiheit.
Phantasiespiel bei Kindern
Im nächsten Entwicklungsschritt bei dem Aufbau von Spielkompetenzen wird uns sehr bewusst, dass wir nicht allein spielen. Wir organisieren ein Miteinander. Es beginnen die Rollenspiele mit ihren komplexen Interaktionen, dem Einkaufen im Kindereinkaufsladen oder dem Nachspielen von beruflichen Rollen. Dazu muss das Spielthema abgesprochen sein, die Rolle definiert sein, um sie einnehmen zu können, damit das entsprechende Verhalten erzeugt werden kann. In diesen Spielen werden verschiedene soziale Rollen nachgeahmt, ausprobiert und eintrainiert. Darf ich böse sein oder bin ich lieber lieb? Wie reagiert mein Gegenüber auf mein Verhalten? In diesen Rollenspielen verarbeiten Kinder aktiv ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit der Welt, in der sie groß werden. Wer bin ich? Wer will ich sein? Es beginnt die Konfiguration von Persönlichkeitsmerkmalen, Charakterzügen und die Entwicklung einer Identität durch komplexe Interaktionen. Dabei werden spielerisch verschiedene soziale Strategien ohne ernsthafte Konsequenzen ausprobiert.
Rollenspiele bei Kindern
Wenn die Schulzeit anrückt, der "Ernst des Lebens" beginnt, dann ergänzen die Regelspiele die Entwicklung der Spielkompetenzen. Brett- und Kartenspiele sind ein reduziertes, abstraktes Abbild der komplexen Wirklichkeit. Mit Hilfe unterschiedlicher Spielmittel wird der Umgang mit dem Zufall trainiert, werden Ziele und Strategien entwickelt, das Verlieren und Gewinnen gelernt. Es ist jetzt klar, ohne Regeln geht das Gesellschaftsspiel nicht. Auch Regelspiele haben viel mit dem Lernen zu tun.
Regelspiele, Brett- und Kartenspiele bei Kindern
Altersgerechtes Spielzeug und die Persönlichkeitsentwicklung
Eltern sind in der Verantwortung, für ihre Kinder altersgerechtes Spielzeug zur Verfügung zu stellen. Es ist für jedes Kind wichtig, auf der Grundlage der individuellen Entwicklung passende Spielanzreize zu erhalten und damit beides zu verhindern, eine Unterforderung oder eine Überforderung in Bezug auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten dieses jungen Menschen.
Wenn Kinder nicht umfassend spielen können oder dürfen, hat dies für die kindliche Entwicklung gravierende Folgen und es entstehen Verhaltensdefizite. Besonders deutlich wird dies, wenn Kinder keine oder nur stark eingeschränkt Bewegungsspiele spielen konnten.
Die Persönlichkeitsentwicklung und Charakterbildung eines jeden Menschen findet im Spielprozess statt. Wie gelassen können wir mit Regelverstößen umgehen? Wie offen sind wir für Neues? Wie verträglich sind wir gegen über unseren Mitmenschen? Wie intro- oder extrovertiert treten wir in Gruppen auf? Wie emotional stabil sind wir in den Momenten des Scheiterns?
Spielzeug ist nicht immer unschuldig. Mit dem Einspieler-Beitrag aus dem Spielzeugmuseum in Nürnberg erklärt Prof. Dr. Karin Falkenberg die Herausforderungen rund um rassistisches Spielzeug.
Prof. Dr. Karin Falkenberg, Leiterin des Spielzeugmuseums Nürnberg
Annegret Montag, Jens Junge und Moderator Jo Hiller im WDR-Studio
Link zur Website von Planet Wissen zur Sendung "Faszination Spielen": HIER.
Link zur TV-Sendung von Planet Wissen "Faszination Spielen": HIER.
Mach mit! Faszination Spielen
In der ARD Audiothek gibt es eine Übersichtsseite zu vielfältigen Beiträgen rund um das Spielen und den Hinweis darauf, dass sich die "Ludologie" als Wissenschaft damit befasst.
Übersichtsseite in der ARD Audiothek zur Faszination Spielen
Link zur Übersichtsseite zu acht Radiobeiträgen in der ARD Audiothek: HIER.