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Spielwissenschaften

Die ludologische Perspektive, ein trans- und interdisziplinärer Forschungsansatz

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Die Ludologie - Eine kurze Geschichte von fast allem.

Biologie, Psychologie und Philosophie kennt jeder. Doch die Ludologie? Nach der Gründung des Instituts für Ludologie an der SRH Hochschule für Kommunikation und Design (ehem. design akademie berlin) schauten wir zum Teil in viele fragende Gesichter, andere waren wegen einer vermeintlichen Doppeldeutigkeit peinlich berührt. Nur Spieler und Gamer bekamen große Augen.

Lateinisch "ludus", das Spiel und das griechische "logos" für die Lehre, führt zur "Lehre über das Spiel", Ludologie zur Spielwissenschaft.

Diskurs um das Spiel in den Wissenschaften

Spiele zu spielen ist ein Grundphänomen des Menschen. Diese Tätigkeit gehört zu den natürlichsten Erscheinungsformen unseres Lebens. Philosophen und Dichter, Pädagogen und Soziologen, Theologen und Anthropologen, Verhaltensforscher, Mikrobiologen, Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler haben Spiele vielfältig beschrieben und unterschiedlich analysiert. Daraus entstanden zahlreiche spieltheoretische Ansätze, die einzelne Aspekte des Spiels heraushoben, sich ergänzten oder widersprachen.

Kernaspekte des Diskurses um das Spiel sind und waren jedoch häufig die Suche nach einer geeigneten Begriffsbestimmung sowie das Erfassen des Gegenstandsbereichs – also die Frage danach, WAS Spiele sind. Innerhalb dieses Diskurses wurde zudem die Funktion von Spielen sowohl für den Menschen als auch für die Kultur im Allgemeinen analysiert. Das Ziel der Ansätze war damit oft ähnlich, die Herangehensweisen, Ergebnisse und Interpretationen jedoch nicht. Irgendwie scheinen die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen aus ihren jeweiligen Perspektiven verschiedene Eingänge in das Labyrinth des Phänomens Spielen zu nehmen.

Ludologie Labyrinth Irrgarten Unüberschaubarkeit

Ein Labyrinth ist ein System aus Wegen, Linien, ein Rätsel, das nur über einen Suchprozess zu lösen ist, der nicht immer am Anfang eindeutig ist. Als entscheidende Fähigkeit, um das Ziel zu erreichen, gilt die Bereitschaft, durch zahlreiche Richtungswechsel voran zu kommen. Das Muster eines großen Layrinths ist nicht auf Anhieb zu erkennen und damit auch kein effizenter Lösungsweg. Der Sachverhalt bleibt unüberschaubar. Nur spielerisch, mit ausreichend Neugier, werden die Schwierigkeiten bezwungen.

Mythen der Labyrinthe

Seit Jahrtausenden ist das Labyrinth ein Symbol und eine Methode, z.B. in der Architektur, um Grabräubern in ägyptischen Pyramiden das Rauben von Grabschätzen schwer zu gestalten. In der griechischen Mythologie wird der Minotaurus (das böse Mischwesen, bestehend aus Mensch und Stier) in der Mitte eines Labyrinths gefangen gehalten. Theseus befreite die Athener. Er tötete das Ungeheuer mit Ariadnes Schwert und fand mit Hilfe ihres Fadens wieder aus dem Labyrinth heraus.

Das Gute (Theseus) muss, um das Böse bezwingen zu können (Minotaurus, s. Bild oben, Labyrinthehaus Altenburg), das anfangs offensichtlich Unüberschaubare durchlaufen. Theseus wird zum Zivilisationshelden, der Fortschritt der Gesellschaft ist gesichert. Ebenso arbeiten die Wissenschaften. Sie versuchen Muster, Regelmäßigkeiten oder gar Gesetze zu beschreiben, um dem Labyrinth des Unerklärbaren, dem Chaos zu entkommen, Licht in den verworrenen, dunklen Ort der Verlorenheit zu bekommen. Wissenschaft will beobachten, erklären und eine Hilfe für anstehende Entscheidungen liefern, um etwas zu verbessern.

Labyrinthe können mehrdeutig sein, ebenso wie Spiele. Das Leben wirkt gelegentlich auf Menschen wie ein Labyrinth. Der Ort der Verstrickung in die Sünde, in die Verlorenheit, ein Ort des Schreckens und der Grausamkeit. Dann wartet im Zentrum des Labyrinths vielleicht nicht der Teufel, sondern die Erlösung, die Glückseligkeit, Jesus Christus, der schon für uns alle Sterbliche endgültig den Tod besiegt hat? Dies war die Motivation der christlichen Architekten, wenn sie in die Kirchenböden, mit Marmor verziert, Labyrinthe einbauten, wie z.B. in der Kathedralen von Auxerre, Chartres, Sens etc. (Frankreich, s. Bild unten).

Gibt es nicht auch Labyrinthe ohne zentralen Zielpunkt in der Mitte? Dann gilt es, nur möglichst schmerzfrei durch das (fiktive) Elend hindurch zu kommen. Seit der Aufklärung, dem Deutungsverlust der Religion über das gesellschaftliche Leben, also mit der Moderne kommt manchen Labyrinthen das geometrische Zentrum abhanden (s. Bild unten) und es gibt mehrere Ein- und Ausgänge an den Seiten.

Also beginnen wir, uns einmal über die verschiedenen Eingänge (wissenschaftlichen Disziplinen) beim Labyrinth der Spielforschung ins Wirrwarr dieses zentralen menschlichen Phänomes zu begeben, um hoffentlich Strukruren und Ordnungen zu entdecken.

Spielen, ein individuelles und ein gesellschaftliches Phänomen

Alle Kinder spielen. Eine im Menschen wirkende innere Kraft treibt jeden an, intrinsisch motiviert stellen wir uns fiktiven Herausforderungen, die uns vielleicht auf reale vorbereiten. So haben erste Psychologen einen natürlichen "Spieltrieb" im Menschen ausgemacht (Herbert Spencer 1855, Julius Schaller 1861, Moritz Lazarus 1883, Giovanni Antonio Colozza 1895, Karl Groos 1896 und 1899, Édouard Claparède 1905, Sigmund Freud 1920, Gerhard von Kujawa 1940, Jean Piaget 1945, s. Spieltheorien). Es scheint besonders bei Kindern eine starke innere Spannung, eine Neugier zu geben, die kontinuierlich zum Spielen anregt. Gleichzeitig ist dieser natüriche Trieb irgendwie anders als der Trieb zur Selbsterhaltung (Hunger, Durst) oder der später aufkeimende Trieb zur Arterhaltung (Sexualtrieb).

Auf der anderen Seite bilden Spiele die Gesellschaft, den kulturellen Rahmen ab, in dem gespielt wird. Es gibt Kulturen in denen weniger gespielt wird, als in anderen. Manche Kulturen pflegen wettbewerbsorientierte Spiele, andere sind geprägt durch kooperative Spiele. Volkstümliche Bräuche, religiöse Rituale treten aus Spielen hervor und bilden wiederum die Grundlage für Gesellschaftsspiele. Philosophen, Anthropologen und Ethnologen haben das Phänomen Spiel aus ihren Perspektiven analysiert (Frederik J.J. Buytendijk 1933, Johan Huizinga 1938, Hugo Rahner 1948, Georg Herbert Mead 1956, Roger Caillois 1958, Eugen Fink 1960, Ingeborg Heidemann 1968, Brian Sutton-Smith 1978, s. Spieltheorien) und damit auch von außen kommende, extrinsische Impulse und Spielmotivationen identifiziert.

Diese beiden anscheinend gegensätzlichen Motivationen, intrinsisch und extrinsisch, bilden die Grundlage für den Brückenschlag den die Pädagogen zu bilden haben, die vielfältigen Individuen darauf vorzubereiten, sich in der bestehenden Gesellschaft erfolgreich einbringen zu können. Kinder verfügen über die Fähigkeit, alle Formen und Arten von seelischen Anspannungen im Spiel auszudrücken, anzupacken, zu modifizieren, handhabbar und nachvollziehbar zu machen. Pädagogen fragen nach dem Lebensumfeld, dem Spielmilieu des Kindes und seinem individuellen Entwicklungsstand (Martin Ehlers 1778, Friedrich Schiller 1795, Johann C.F. GutsMuths 1796, Jean Paul 1807, Friedrich Fröbel 1839-1844, Hans Scheuerl 1954, Andreas Flitner 1972, Hein Retter 1979, Jürgen Fritz 1991, s. Spieltheorien).

Brian Sutton-Smith fasst zusammen: "Es geht beim Spielen nicht etwa um die Erkenntnis, dass Spielen wichtig für die Entwicklung des einzelnen ist, dass es bestimmte Fähigkeiten trainiert und Freude macht. Das stimmt alles unbestritten. Nein, die eigentliche Sensation und vielleicht der Urgrund, warum die Natur das Überlebenstraining im Spiel erfunden hat, ist: Spielen erhält uns den Optimismus! Hätten wir diese oft amorphe, wenig erfüllbare erscheinende Hoffnung auf "Alles wird gut" nicht, würden wir nach dem erstbesten Scheitern nie wieder einen Versuch wagen. Wir wären verloren und die Pessimisten würden Seite an Seite mit den Zynikern die Welt untergehen lassen." (s. Sutton-Smith, Brian: "Warum spielt der Mensch?", in Sozialpädagogik Heft 4, 1996, S. 160 f.)



Komplexe Gesellschaften entwickeln und benötigen komplexe Spiele. Das Spielen ist seit Jahrtausenden ein Grundphänomen des Menschen, um mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen in einen Dialog zu treten, optimistisch das Leben gestalten zu wollen. Da ist es nur natürlich, dass neben den analogen auch die digitalen Spiele in unserer heutigen Welt einen zentralen Beitrag zur Adaption und Variation unserer Kultur leisten.

Der Streit von Ludologen und Narratologen

In unserer digitalen Neuzeit entbrannte insbesondere in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit "Computerspielen" von mehr als 20 Jahren ein Paradigmenstreit zwischen Narratologie und Ludologie um die Frage, ob Computer- und Videospiele mehr sind als eine bloße Geschichte und somit nicht zur Gänze mit literaturwissenschaftlichen Kategorien zu analysieren sind (vgl. Frasca 1999). Die Ludologie bejaht diese Frage. Jesper Juul reagierte sogar mit der Feststellung:

„You can have a computer game without any narrative elements.“

Frasca fasste das Problem wie folgt zusammen:

„The problems of using a "game" perspective are many. Basically, traditional games have always had less academic status than other objects, like narrative. And because of this, game formalist studies are fragmented through different disciplines, and not very well developed.“ (Frasca 1999, S. 1)

Und er konstatierte vor allem das Fehlen einer „eigenen“ Forschungsdisziplin:

„Our major problem is the actual situation of the study of traditional games: lack of clear definitions and theories; more functionalist approach rather than formalist; fragmented analysis from different disciplines.“ (Frasca 1999, S. 1)

Als Konsequenz dieser Feststellung formulierte Frasca daher den Begriff Ludologie als alleinstehende Disziplin (vgl. Frasca 1999, S. 2), die die verschiedenen Ansätze bündelt, weiterentwickelt und in ein transdisziplinäres Forschungsfeld zusammenführt. Die ersten Versuche spielwissenschaftlicher Untersuchungen waren zumeist von einer disziplinären Herangehensweise geprägt. Dabei nährte sich das Aufstellen und Operationalisieren von Hypothesen aus der Perspektive einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin.

Die ersten Pioniere der Computerspielwissenschaften haben somit dieselben Probleme identifiziert, wie die Spielwissenschafter über die Jahrhunderte vorher. Die Probleme haben sich sogar potenziert, weil komplexe Technologien im digitalen Spiel zum Einsatz kommen.

Gameskultur und Kulturgut Spiel

Inzwischen hat sich in Deutschland in Bezug auf die digtalen Spiele einiges getan. Am 29.01.2018 fusionierten die vorher bestehenden zwei Verbände zum game - Bundesverband der deutschen Gamesbranche e.V. und der Deutsche Kulturrat e.V. hat die Computerspiele als zu unterstützendes Medium seit einigen Jahren anerkannt.

In dem gemeinsam 2020 herausgegebenen Buch "Handbuch Gameskultur - Über die Kulturwelten von Games" beschreiben 47 renomierte Spieleexperten den aktuellen Stand rund um die zahlreichen Aspekte der Gameskultur und der Computerspielwissenschaften - Game Studies. Einen ausführlicher Beitrag dazu und kostenfreier Download des Buches: Hier.

Die Computerspiele haben sich seit den 1970er Jahren rasant weiterentwikelt und sind seitdem ein fulminanter Technologietreiber bei der digitalen Transformation unserer Gesellschaften. PC-Spiele, Videogames und Mobile Games führen Literatur, Film, Musik und Spielerlebnis immersiv über modernste Game Engines mit Datenbanktechnologien und Künstlicher Intelligenz zu einem fazinierenden Produkt zusammen. Analoge Spielmechaniken und Spielkonzepte bilden die Basis für diese relativ neue Branche. Da liegt es nahe, Ansätze für verbindende spielwissenschaftliche zu suchen.

Ansatz für eine transdisziplinäre Spielwissenschaft

Joseph Levy trieb als einer der ersten Wissenschaftler (Sportwissenschaftler) transdisziplinäre und interdisziplinäre Ansätze zur Untersuchung von Spielverhalten voran. In seinem Werk "Play Behavior" (1978) präsentierte er ein konzeptionelles Paradigma, das die Perspektiven unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen zusammenbringt und somit eine rigorose, zusammenhängende und holistische Erforschung des Spielkonzeptes ermöglicht. Dieses Play Paradigma schafft einen konzeptionellen Raum für die wissenschaftliche Analyse von

  • Determinanten (warum wir spielen),
  • Charakteristika (was wir spielen),
  • Strukturen (wie wir spielen)
  • und Konsequenzen (welche Auswirkungen das Spielverhalten hat)

des Spielens sowie der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Komponenten. In diesem Sinne, ist das Framework Ausdruck von Levys Bestreben, eine "grand theory of play behavior" zu entwickeln, die alle bis dato verbreiteten Theorien des Spielverhaltens umfasst und dadurch klassische, psychoanalytische, entwicklungsorientierte und ökologische Erklärungsansätze miteinander vereint.



Spielen als Grundphänomen

Levys Rahmenkonzept fußt auf wichtigen Ideen einflussreicher Pionierforscher auf dem Gebiet der Ludologie, die die Interaktion zwischen Person und Umwelt als Ursprung und entscheidende Determinante jeglichen Spielverhaltens betrachten. Johan Huizinga (1938), dessen Einfluss auf die Spielforschung in beinahe jeder relevanten Fachveröffentlichung ersichtlich ist, verdeutlichte, dass das Spielverhalten, mehr als jede andere menschliche Verhaltensform, zur kulturellen Weiterentwicklung und dem Aufblühen der Zivilisation beigetragen hat.

Doch Spielverhalten ist nicht nur als Ursprung der menschlichen Sozialisierung zu sehen, sondern kann gleichermaßen als Konsequenz sozio-kultureller Strukturen dargestellt werden. Roberts und Sutton-Smith (1962) verglichen das Spielverhalten unterschiedlicher Kulturkreise und fanden beispielsweise heraus, dass in religiös geprägten Kultursystemen, in denen das Wertebild den Einfluss übernatürlicher Kräfte betont, häufig Glück oder Zufall (chance) als vorherrschende Spielelemente zu finden sind. Spiele, deren Ergebnis vorrangig von mentalen oder physischen Fähigkeiten des Spielers (skill) abhängt, treten hingegen vermehrt in leistungsorientierten Gesellschaften auf. In diesen ist der Glaube verankert, dass der Mensch sein Leben selbst in der Hand hat und die Fähigkeiten besitzt, Einfluss auf seine Umgebung auszuüben. Strategische Spiele (strategy), bei denen die Qualität kognitiver strategischer Entscheidungen höheres Gewicht hat, sind wiederum beliebter in „strukturell komplexen“ Gesellschaften.

Die Ludologie stellt damit einen Paradigmenwechsel dar, der sich dadurch auszeichnet, dass der Zugang zum Verstehen der Welt das Spiel sei. Roger Caillois (1913-1978) formulierte dazu:

"Ich schreibe nicht nur eine Soziologie der Spiele, sondern ich habe die Absicht, die Grundlagen einer von den Spielen ausgehenden Soziologie zu erarbeiten." (Caillois 1958, S. 78)

Der Spielpädagoge Ulrich Heimlich (geb. 1955) meint, Caillois würde das Spiel mit "einer großen Aufgabe befrachten", wenn er vom Spiel ausgehend eine Theorie der Kultur, der Zivilisation oder der Gesellschaft entwickelt. Für ihn bleibt nur festzuhalten,

"[…] dass der Rückblick auf die Geschichte des Spiels in verschiedenen Kulturen und unterschiedlichen Gesellschaften die Frage nach seiner Bedeutung für den Menschen aufwirft." (Heimlich [1993] 2015, S. 92)

Diese Frage nach der Bedeutung des Spiels beantwortet der Biochemiker und Nobelpreisträger Manfred Eigen (geb. 1927) noch umfassender als die Geisteswissenschaftler:

"Das Spiel ist ein Naturphänomen, das schon von Anbeginn den Lauf der Welt gelenkt hat: von der Gestaltung der Materie über ihre Organisation zu lebenden Strukturen bis hin zum sozialen Verhalten der Menschen. Grundelemente des Spiels - Zufall und Gesetz - bestimmen jegliches Geschehen im Universum. So lassen sich Naturgesetze in Form von Spielregeln abstrahieren. Das setzt dem Würfelspiel des Zufalls, also der Unbestimmtheit der elementaren Ereignisse, enge Grenzen. Auf dem Spielfeld bilden sich Muster, Information entsteht, die Gesetze von Selektion und Entwicklung treten klar hervor." (Eigen [1985] 1996: 2)

Während das Spiel in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen als grundlegend und kulturkonstituierend betrachtet wird, ist es in vielen Bereichen des täglichen Lebens explizit herausgelöst. Die empörte Aussage über die Verkennung der Realität zeigt sich allein schon in der Sprache: „Das ist doch hier kein Spiel! Das ist Ernst!“, „Wenn aus Spiel Ernst wird“ – oder auch in der pejorativen Verwendung des Begriffs „Spielerei“. „Spiel“ und „Ernst“ scheinen als diametrale Phänomenbereiche betrachtet zu werden, die sauber voneinander getrennt sein müssen. Inwiefern insbesondere in Unternehmen die Chance und Notwendigkeit verpasst wird, vom Ernst zum Spiel zu kommen bzw. diese Bereiche zu verbinden, ist eine zentrale Aufgabe der Ludologie. Festzustellen ist schon jetzt, dass das Spiel als Methode sein Nischendasein verlassen wird. Hier beginnt die Arbeit (der Spaß) der Ludologen. Eine ludologische Perspektive, spielwissenschaftliche Impulse konnen die zahlreichen anderen wissenschaftlichen Disziplinen inspirieren. Kommen wir also vom verworrenen Labyrinth der fraktalen spieltheoretischen Ansätze mit ihren vielfältigen Ein- und Zugängen zum Kreisel.

Spielwissenschaften als Impulsgeber

Wissenschaft ist leider nie eindeutig oder perfekt und führt nicht zu einem wahren Ziel. Sie ist nicht linear, wie der Weg durch das Labyrinth. Es kann alles anders sein, morgen kommt eine neue Theorie und beweist das Gegenteil. Wenn sich also zwar die verschiedenen Wissenschaften über zahlreiche Ein- und Zugänge auf den Weg machen, um die Verworrenheit und das Chaos des Spielphänomens zu entwirren, dann ist vielleicht dieses spielerische Bild des Labyrinths nicht ausreichend hilfreich, auch wenn es den aktuellen Stand der zersplitterten Spielwissenschaften beschreibt.

Das, was die politisch protegierte Sportwissenschaft als Teilgebiet der Spielwissenschaften schon erreicht hat, davon sind die verbindenden, generellen spielwissenschaftlichen Ansätze noch sehr weit entfernt und in Deutschland mindestens 50 Jahre zurückgeblieben. Es gibt bisher leider nicht die zentrale, politisch aktive Lobbyarbeit für diesen eigentlich so wichtigen, zukunftsorientierten Forschungsbereich. So wie viele Entscheidungsträger das Spiel noch heute als "Kinderkram" bezeichnen, stecken die spielwissenschaftlichen Arbeiten in den Kinderschuhen. Das Spiel ist ernst zu nehmen und sein Potential ist methodisch zeitgemäß zu erschließen. Wird es aber noch nicht. Was ist zu tun?

Der Kreisel ist ein Symbol für die vom Menschen initiierte Dynamiken und die Wirkung der Kräfte der Physik. Der Mensch hat mit seinem Verhalten den sich um seine eigene Achse drehenden Planeten Erde nachhaltig über Jahrtausende verändert. In ihm verbinden sich die Wissenschaften und auch gleichzeitig die Probleme und Herausforderungen unserer Welt. So wie einzelne Menschen beim Glücksspiel ihr Hab und Gut verspielen können, ahnt die Menschheit erst langsam, dass sie die natürlichen Ressourcen dieser Welt nicht unbegrenzt in dem Glücksspiel um uneingeschränktes Wachstum einsetzen kann. Ganzheitliche, nachhaltige Lösungsansätze werden dringend relevant.

Der Kreisel als Spielsymbol, der den Holzkugeln als Symbol der jeweiligen kleinteiligen Einzelwissenschaften Impulse setzt, sie antrreibt und passend platziert, führt uns zu dem Gedanken eines ganzheitlichen, spielwissenschaftlichen Ansatzes als Dreh- und Angelpunkt im Spiel der Wissenschaften.

Spielwissenschaften als ganzheitlicher Ansatz

Innerhalb der Wissenschaften ist die Unterteilung und Einsortierung der verschiedenen Disziplinen, Fakultäten und Fachbereiche an den deutschen Hochschulen und Universitäten in Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften seit Jahrhunderten üblich (seit 2002 hat auch die OECD eine Systematik für sechs Wissenschaftszweige entwickelt: Fields of Science and Technology, FOS). Eine Zu- oder Einordnung der Ludologie in diese klassischen Forschungsbereiche erscheint nicht logisch, weil sie in sämtlichen Teilbereichen Anknüpfungspunkte liefert. Das Thema Spiel verbindet die drei klassischen Themenbereiche ebeso, wie die sechs FOS-Kategorien. Spielen ist ein Natur- und Kulturphänomen zugleich. Die Spielwissenschaften sind trans- und interdisziplinär, sie haben keine Grenzen zu anderen Wissenschaften, sie wollen und dürfen keine Grenzen ziehen. Die ludologische Perspektive ist ganzheitlich und erfordert ein globales Denken. Sie ist eine "Weltmethode".

Spielen kann jeder Mensch. Diese weltweit natürliche Selbstverständlichkeit wurde bisher nicht als verbindendes, vermittelndes Element oder wissenschaftliches Instrument als eigenständiges, übergreifendes Wissenschaftsgebiet definiert. In der traditionellen Wissenschaftswelt, die ihre Forschungsgegenstände zerlegt und im Detail analysiert, werden Spezialisten und kaum Generalisten ausgebildet. So befassen sich innerhalb ihrer jeweiligen fachlichen Perspektiven separat Biologie, Chemie, Physik, Mathematik, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Anthropologie, Ethnologie, Kulturwissenschaft, Medienwissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Informatik, Literaturwissenschaft, Sportwissenschaft, Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft, Filmwissenschaft, Philosophie mit den Phänomenen des Spielens.

Spiele verschenken Erfolge, sie machen uns optimistisch. Erfahrungen im Spiel verschaffen uns auf eine förderliche Art und Weise vielfältiges Vergnügen. Ausgestattet mit Spielkompetenzen, nutzen wir spielerisch die Fähigkeit, glücklich zu sein. Das Spiel befähigt uns, nicht nur Freude zu erleben, sondern uns selbst und unseren Mitmenschen Freude zu bereiten. Im Spiel sind wir ganz Mensch (s. Friedrich Schiller, 1795). Das Fundament von Dankbarkeit und Glücksgefühl erarbeiten wir uns spielend, weil wir das Leben im Spiel strukturieren und erproben können, es handhabbar gestalten und im wahrsten Sinne in vernüglicher Form begreifen. Mit dieser positiven Lebenseinstellung befreien wir uns von einer vielleicht bedrückenden Hilf- und Machtlosigkeit, wir erhalten das Gefühl von Kontrolle und Sicherheit,  sind kein Spielball des Schicksals sondern gestalten unser Leben eigenbestimmt.

Mit den anstehenden gesellschaftlichen Veränderungen, verstärkt und beschleunigt durch den weltweiten Digitalisierungsprozess, werden wir Menschen brauchen, die mit Spielkompetenzen ausgestattet, Erfahrungsräume gestalten, simulieren und deuten können, die Zusammenhänge erkennen, Gemeinsamkeiten schätzen und pflegen können.

 

Aufbau und Struktur der Spielwissenschaften

Die Literaturwissenschaft beschäftigt sich wissenschaftlich mit Literatur, die Filmwissenschaft mit Film und die Theaterwissenschaft mit Theater. Die Spielwissenschaft mit Spiel? Nein, das wird wohl nicht reichen. Das Phänomen Spiel ist so vielfältig und umfangreich, dass es Unterteilungen in mehrere Teilbereiche erforderlich macht. So wie andere Wissenschaften, die einen Forschungsgegenstand bezeichnen, der nach vertiefenden Spezialisierungen rufen, z.B. die Humanwissenschaften mit den Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften, bedürfen zahlreicher weiterer Unterteilungen. Bei der Ökonomie als einer Sozialwissenschaft wird differenziert in die Volkswirtschaftslehre und die Betriebswirtschaftslehre. Zusammen ergeben sie die Wirtschaftswissenschaften.

Das Phänomen des Spielens als Forschungsgegenstand erfordert mehrere große Überschriften und einen hohen Detailgrad gleichermaßen. So schlagen wir vor, die Spielwissenschaften (die Lehre vom Spiel, die Ludologie) zu unterteilen in folgende Lehren und Teilwissenschaften der Ludologie:

1. Lehre vom Spielphänomen der Natur. Von der Mikrobiologie über das Spielen der Tiere (Verhaltensforschung) bis hin zum natürlichen Spieltrieb des Menschen und dem explorativen Spiel sind die Bestandteile des Forschungsgegenstandes. Die Umwelt wird erkundet, Selbstwirksamkeitserfahrungen entstehen, aus Unsicherheit erwächst eine Kontrollüberzeugung und ein Sicherheitsgefühl.

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2. Lehre vom Phantasiespiel. Mit der menschlichen Sprachentwicklung beginnt die Möglichkeit, Fiktionen zu beschreiben sowie Objekten, Dingen Bedeutungen zuzuordnen. Wir beginnen in die Sphäre des "Als-Ob" einzutreten, zu träumen, Veränderungen, Innovationen zu entwickeln.



3. Lehre vom Rollenspiel. Objekte und Phantasie führen in Kombination dazu, einen Dialog mit Spielmitteln und Spielzeug zu beginnen. Empathie und Konfliktlösungspotentiale werden spielerisch erprobt. Gesellschaftliche Rollenmuster erfahren Nachahmung und Überprüfung, ob sie zur eigenen Identität passen könnten oder nicht. Gruppenspiele, in denen eine Rollenverteilung stattfindet werden organisiert, die Sozialisation mit den individuellen Ausprägungen für Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Offenheit, Geselligkeit und emotionale Stabilität eröffnen Spielräume.



4. Lehre vom Konstruktionsspiel. Vom Spiel des Menschen mit den natürlichen Grundelementen, seinem Baumaterial und den technischen Errungenschaften bis hin zum realwissenschaftlichen Simulationsspiel in analoger oder digitaler Form.



5. Lehre vom Regelspiel. Von regelbasierten Rollenspielen, Spielen mit Spielmitteln, Gesellschaftsspielen, Karten- und Brettspielen bis hin zu Computerspielen. Aufgrund der extremen Vielfalt und Komplexität regelbasierter Spiele schlagen wir weiterhin eine Unterteilung dieser spielwissenschaftlichen Ansätze vor in:

  • Analoge Spiele (Gesellschaftsspielwissenschaft, Boardgame Studies)
  • Digitale Spiele (Computerspielwissenschaft, Game Studies)
  • Sportspiele (Bewegungsspiele, Sportwissenschaft, Sports Science)
  • Glücksspiele (Mischform aus analogen, digitalen und Sportspielen, jedoch mit Geldeinsatz, Gambling)

Analoge Spiele, Gesellschaftsspiele, Brett- und Kartenspiele (Boardgame Studies)

Digitale Spiele, Computerspiele, Videospiele, Konsolenspiele, Mobile Games (Game Studies)

Sportspiele, Bewegungsspiele, Olympische Spiele (Sports Science)

Glücksspiele, analoge, digitale oder Sportspiele (Wetten) mit Geldeinsatz (Gambling)


Uns ist bewusst, dass diese Einteilung der Spielwissenschaften formal nicht eindeutig ist, weil komplexe Spiele aus sämtlichen Teilbereichen Spielelemente einsetzen können, bis hin zu Hybridspielen. Über diese vorgeschlagene Struktur und Einteilung mit der Fokussierung auf die thematischen Schwerpunkte der jeweiligen wissenschaftlichen Teilbereiche des menschlichen Grundphänomens Spielen lassen sich jedoch gezielte Forschungsvorhaben gestalten und Lehrveranstaltungen aussagekräftig strukturieren.

Der trans- und interdisziplinäre Ansatz der Spielwissenschaften zu den bestehenden Natur- und Geisteswissenschaften wird mit dieser Einteilung deutlich, ebenso dass die Forschungsmethoden quantitativ und qualitativ sowie empirisch und theoretisch sein können und müssen.

Querschnittsthemen der Spielwissenschaften zu diesen Lehr- und Forschungsbereichen sind u.a.: Gamebased Learning, Serious Games, Lernspiele, Gamification.

Eine Auswahl an konkreten Forschungsprojekten des Instituts für Ludologie kurz zusammengefasst: HIER.

 

Überblick zu ersten Spielwissenschaftlern

Friedrich Schiller (1759-1805) formulierte als Literat in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen den sehr oft zitierten Satz: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Er stellte den Spielbegriff über den der Kunst (1795)

Julius Schaller (1810-1868) befasste sich als Philosoph grundlegend auf 340 Seiten mit den Erscheinungsformen des Spiels: "Das Spiel und die Spiele - Ein Beitrag zur Psychologie und Pädagogik wie zum Verständnis des geselligen Lebens" (1861). Er versuchte als erster Wissenschaftler den Spielbegriff zu definieren und stellte seine unfassbare Vielfalt fest sowie gegensätziche Aspekte zum Begriff "Ernst".

Moritz Lazarus (1824-1903) war der erste namhafte Psychologe, der sich mit dem Büchlein "Über die Reize des Spiels" (1883) auseinandersetze und mit seinem Blick auf die verschiedenen Kulturen und ihre Spiele als Völkerpsychologe (Völkerkunde) die individuelle sowie kulturelle Bedeutung des Spiels umrissen hatte. Mit seiner Betrachtung der Lebenskreise und Rollen für einen Menschen, setzte er die Impulse für das spielwissenschaftliche Standardwerk von Johan Huizinga "Homo ludens" und den von ihm beschrieben "Magic Circle"("Zauberkreis"). Lazarus gilt trotzdem als Vertreter der "Erholungs- und Entspannungstheorie" für das Spiel, weil er darauf psychologisch den größten Wert legte.

Johan Huizinga (1872-1945) legte 1938 mit seinem Buch "Homo ludens - Spiel als Ursprungsort von Kultur" in den Niederlanden als Kulturhistoriker und Anthropole ein zentrales Standardwerk der Spielwissenschaft vor ("Kulturschaffungstheorie" des Spiels).

Gerhard von Kujawa schaffte es im Kriegsjahr 1940 im nationalsozialistischen Deutschen Reich an der Zensurbehörde vorbei seine "Randbemerkungen" in Buchform als Psychologe und "Schildbürger" zu veröffentlichen: "Ursprung und Sinn des Spiels".

Roger Caillois (1913-1978) beschrieb 1958 als Charakteristikum des Spiels das Spannungsverhältnis zwischen Improvisation und Regelgebundenheit (paidia und ludus) in "Die Spiele und die Menschen". Als französischer Soziologe begann er sich über Spielformen der Gesellschaft Gedanken zu machen.

Brain Sutton-Smith (1924-2015) analysiert das menschliche Grundphänomen sehr gründlich. Als amerikanischer Wissenschaftler gilt er als Vertreter der "Dialektiktheorie". Das Spiel ist eine Methode des Menschen, um das Spannungsfeld von Adaption und Variation für ein angemessenes Verhalten innerhalb seiner Umwelt aufzulösen.

 

Literatur

Caillois, Roger (1982): Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Berlin: Ullstein Verlag. (Originalausgabe 1958).

Eigen, Manfred; Winkler, Ruthild (1985): Das Spiel - Naturgesetze steuern den Zufall. München: Piper Verlag.

Frasca, Gonzalo (1999): Ludology meets Narratology: Similitude and differences between (video) games and narrative. Originally published in Finnish in Parnasso 1999: 3, 365–71. [Online] http://www.ludology.org/articles/ludology.htm [17.11.2015].

Huizinga, Johan: (1938): Homo ludens - Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg: Rowohlt.

Juul, Jesper (2005): half-real. Video Games between Real Rules and Fictional Worlds. Cambridge: MIT Press.

Levy, Joseph (1978). Play Behavior. Malabar, FL: Krieger Publishing Company.


Umfassende Literaturliste mit Büchern zu Spieltheorien, hier auf ludologie.de