Zwanzig Jahre nach Johan Huizingas „Homo ludens“ entstand die zweite wegweisende Arbeit zu Spieltheorien. Mit „Les jeux at les hommes“ („Die Spiele und die Menschen“) schreibt der französische Philosoph und Soziologe Roger Caillois 1958 eine explizite Antwort auf „Homo ludens“, in dem Huizinga das menschliche Spiel als den Ursprung der Schaffung von Kultur schlechthin darstellt.
Zwar stimmt Cailllois zum größten Teil mit Huizingas Spieldefinition überein, indem er sechs formale Kriterien für Spielaktivitäten in Anlehnung an Huizinga formuliert:
- Spiele müssen freiwillig geschehen, andernfalls verlören sie ihren anziehenden, lustvollen Charakter.
- Spiele finden sorgfältig vom Alltagsleben abgetrennt, innerhalb bestimmter örtlicher und zeitlicher Grenzen statt.
- Der Ausgang eines Spiels ist stets unvorhersehbar und auch dessen Verlauf ist ungewiss: Ein Spiel bietet Überraschungen und ist nicht im Voraus bekannt.
- Spielen ist unproduktiv. Auch wenn es ein wirtschaftliches Moment enthält, so bringt es keine Güter, keinen Reichtum oder sonstigen Mehrwert hervor, weil lediglich eine Verschiebung von Eigentum zwischen den Spielern stattfindet.
- Spiele werden durch ein Regelwerk bestimmt, das allgemeingültige, aber neue Konventionen einführt. Allerdings benötigen nach Caillois nicht alle Spiele Regeln.
- Caillois‘ sechstes Spielmerkmal, die fiktive Betätigung, kann daher als Alternative zur Regelgebundenheit gelesen werden. Spiele sind von einem Bewusstsein einer zweiten Wirklichkeit, die in Kontrast zum gewöhnlichen Dasein steht, begleitet.
Vier Spielformen: agộn, alea, mimicry und ilinx
Gleich zu Beginn des ersten Kapitels seines „Les jeux at les hommes“ aber kritisiert Caillois dann „Homo ludens“ für das Fehlen einer Klassifikation der Spiele. Denn die beschriebenen Spieleigenschaften lassen keinen Rückschluss auf den Inhalt der Spiele und die individuellen Geisteshaltungen der Spieler zu. Immerhin können die psychischen Dispositionen der Spieler bei verschiedenen Spielen grundverschieden sein. Als größten Mangel an „Homo ludens“ macht er folglich aus, dass Huizinga überwiegend äußere Strukturen untersucht, nicht die innere Einstellung, die jedem Verhalten seine eigentliche Bedeutung verleiht. Für Caillois ist schwer vorstellbar, dass das Spiel etwas Einheitliches ist, dass mit einem Terminus all die verschiedenen Betätigungen beschrieben werden können, die nur ihren Namen gemeinsam haben. Mit seinem eigenen Werk schließt Caillois diese Lücke und schlägt eine Einteilung nach Spielprinzipien vor: Abhängig davon, ob in den jeweiligen Spielen Wettstreit, Zufall, Rollenspiel und Maskierung oder Nervenkitzel und Rausch die herausragende Rolle spielen, gelangt Caillois zu einer Einteilung in die folgenden vier Kategorien, die jeweils Spiele gleicher Natur zusammenfassen:
· agộn: Sowohl Menschen als auch Tiere widmen sich dieser Spielform, die regulierten Wettbewerb beinhaltet. Während das Spiel mit einer künstlichen Chancengleichheit aller Teilnehmer beginnt, ist es im Verlauf des Spiels deren Bestreben, Überlegenheit zu demonstrieren. Spielvergnügen entspringt dem Messen der Kräfte in einer fairen, ausgewogenen Situation. In Erscheinung tritt diese Spielform etwa im Sport und Wettbewerben aller Art.
· alea: Im Gegensatz zu agộn geht es bei alea nicht um die aktive Durchsetzung des Spielerfolges, sondern um ein Sich-Ausliefern an externe Kräfte. Nicht andere Spielteilnehmer sollen bezwungen werden, sondern das Schicksal selbst. Es geht eben nicht um die Demonstration von Anstrengung, Erfahrung, Intelligenz und Können, sondern alleinig um das passive Abwarten einer schicksalhaften Entscheidung. Gemeinsam ist agộn und alea jedoch, dass es in beiden Fällen um die Zuweisung von Rang, einer Position in der Welt geht. Denn nur ein Auserwählter ist vom Glück begünstigt. Alea bereitet wie agộn den Spielern eine faire Ausgangssituation, wie es sie in der Wirklichkeit nicht gibt. Spiel ist somit, so Caillois, immer auch ein Versuch, perfekte Situationen zu schaffen, wo das Leben ansonsten nur Unübersichtlichkeit bereithält. Alea ist die einzige Spielform, die nur vom Menschen betrieben wird, wie etwa Lotterien, Würfelspiele, Kasinos.
· mimicry: Während Spiele im Allgemeinen die Erschaffung fremder Welten zulassen, um der Wirklichkeit zu entfliehen, so erlaubt mimicry die Flucht vor sich selbst und das Hineinschlüpfen in fremde Rollen. Der Spieler vergisst und verschleiert seine Persönlichkeit, um zeitweilig eine andere anzunehmen. Neben der aktiven eigenen Verwandlung kommt diese Spielform auch zum Tragen, wenn Menschen passiv an einer Verwandlung teilnehmen, indem sie sich mit den handelnden Akteuren identifizieren. Bei Ilinx geht es um die Ausblendung der Welt und Schaffung einer neuen Wirklichkeit. Caillois zählt zu dieser Kategorie die kindliche Nachahmung, das Puppenspiel, Theater und sonstige Schaukünste.
· ilinx: Schließlich können Spiele auch auf der Suche nach Rausch, Ekstase, Lust an der Angst beruhen. Dabei besteht der Reiz im Herbeiführen tranceartiger Zustände, einem Nervenkitzel sowie der Störung der eigenen Wahrnehmung, indem man sich großen Geschwindigkeiten, Stürzen und kreisförmigen Bewegungen aussetzt. Beispiele für diese Kategorie sind kindliche Drehspiele, Tanzen und Jahrmarktattraktionen
Ganz bewusst unterscheidet Caillois Spiele nicht auf der Basis, ob sie vorrangig geistige oder körperliche Fähigkeiten verlangen, auch unterscheidet er nicht zwischen Spielen für Erwachsene und solchen für Kinder und sucht immer auch nach Beispielen aus dem Tierreich. Für ihn kommt es bei der Klassifizierung alleinig auf die innere Haltung der Spieler an. Dass der Boxer seine Muskelkraft und der Schachspieler sein Köpfchen einsetzt, ist für Caillois nicht der entscheidende Unterschied. Vielmehr weist er darauf hin, dass die Grundhaltung der Spieler dieselbe ist: Sowohl Boxer als auch Schachspieler streben unter denselben Bedingungen danach, ihren Rivalen niederzuringen. Auch Lotterie, Roulette und Baccara mögen sich zwar in mancherlei Hinsicht voneinander unterscheiden, die Spielerattitüde ist aber immer dieselbe: Spieler betätigen sich nicht aktiv, sie warten lediglich das Ergebnis ab.
Zudem ist Caillois bewusst, dass die Grenzen zwischen den vier Kategorien nicht trennscharf sind. So treten etwa agộn und alea oft in Kombination auf, wenn etwa durch Integration eines Glücksmoments ins Spiel Chancengleichheit bei unterschiedlichen Startvoraussetzungen der Spieler herbeigeführt werden soll. Auch mimicry und agộn vermischen sich häufig: Nicht nur in so offensichtlichen Fällen wie etwa Kostümwettbewerben, sondern auch etwa bei Sportveranstaltungen, wenn die Zuschauer sich mit den Akteuren identifizieren. Dahingegen sieht Caillois zwischen mimicry und alea keinerlei Verbindung, weil ersteres die aktive Intervention des Spielers, letzteres hingegen das passive Abwarten des Schicksals beinhaltet. Auch die Kombination aus agộn und ilinx ist unmöglich, weil das gekonnte Manipulieren im Gegensatz steht zum bewussten Fallenlassen.
Zwei Spielweisen: paidia und ludus
Die Einteilung in vier Spielformen ist für Caillois jedoch nicht ausreichend, um das gesamte Universum der Spiele zu beschreiben. Obgleich die vier Kategorien – einzeln oder in Kombination – geeignet sind, die verschiedensten Spielformen zu erfassen, muss weiterhin berücksichtigt werden, dass sich Spiele innerhalb jeder einzelnen dieser Kategorien auf einem Spektrum zwischen zwei gegensätzlichen Spielweisen bewegen können:
· Paidia: das regel- und zügellose, frei improvisierte Spiel, welches durch den Übermut und die spontane Freude an einer Betätigung gekennzeichnet ist.
· Ludus: das durch strukturierte Aktivitäten und explizite Regeln geformte Spiel, in dem Hindernisse gesucht und durch Training überwunden werden.
Caillois‘ Schema des Verlaufs zwischen freieren und stärker regulierten Spielweisen ist deshalb wichtig, weil daraus die Institutionalisierung von Spielen erklärt werden kann: deren Entwicklung als kulturelle Artefakte mit anerkannten Namen, Regeln, Utensilien und Techniken ist dem Umstand geschuldet, dass Ludus mit seinem Regelwerk dafür sorgt, dass Aktivitäten kohärente, vermittelbare Formen annehmen. Obgleich Paidia mit seinem Mindestmaß an Freiheit für jene Zerstreuung und Fantasie sorgt, die zentrale Elemente von Spielen sind, werden Spiele durch die „disziplinierende“ Wirkung von Ludus zu sozialen und kulturellen Ereignissen.
Caillois stellt die Entwicklung von Gesellschaften in einen Zusammenhang mit dem Wandel von Spielformen. In früheren, ökonomisch einfacher strukturierten Gesellschaften, die gemeinhin als religiös, emotional, gemeinschafts- und verwandtschaftsorientiert, agrarisch und traditionell beschrieben werden, herrschen laut Caillois die Spielformen mimicry und ilinx vor. Im Laufe der Geschichte wurden Gesellschaften größer, komplexer, hierarchischer, ökonomisch spezialisierter, die Suche nach Fortschritt verdrängte die Tradition und Privateigentum entstand. In solchen „geordneteren“ Gesellschaften hingegen treten agộn unad alea in den Vordergrund. Dieser Wandel der Spielformen hängt laut Caillois mit dem Bedeutungsgewinn von Rationalität auf dem Weg zur Moderne zusammen.
In einer Welt, in der sozialer Status nicht mehr von der Geburt abhängt, sondern das eigene Vorwärtskommen durch Beharrlichkeit, Glück und insbesondere Leistung bestimmt wird, betont Spiel Leistung und Zufall. Der Zufall wird als Korrektiv betrachtet – um auch den weniger Begabten und Fähigen eine Chance auf den Sieg zu wahren. Anders in traditionellen Gesellschaften, in denen Wettbewerb nicht systematisiert vorkommt und Glück und Zufall der Gunst der Götter zugeschrieben werden.
Wie Huizinga anerkennt auch Caillois, dass der Geist des Spiels wesentlich ist für Kultur. Für Huizinga waren Spiele eng verwoben mit den Institutionen alter Gesellschaften, so waren seiner Meinung nach etwa Kriege oder Gerichte im Wesentlichen Spielfelder. Caillois bestreitet das nicht, doch macht er darauf aufmerksam, dass sich im Laufe der Geschichte die soziale Funktion, nicht aber die Natur von Spielaktivitäten verändert habe. Der Wandel bringt mit sich, dass die politische und religiöse Aufladung abhandengekommen sei.
Um dies zu unterstreichen, bietet Caillois eine Vielzahl von Beispielen: Bevor sich die Maske zum reinen Spielzeug wandelte, war sie heiliges Objekt und Bestandteil religiöser Rituale. Glücksspiele sollten einst helfen, den Rätseln des Universums auf die Spur zu kommen und sind heute bloßes Amüsement. Jedoch sieht Caillois die modernen Varianten der alten Aktivitäten nicht als Degradierung an, denn seiner Meinung nach werden grundlegende menschliche Impulse – das Streben, Überlegenheit unter Beweis zu stellen, das Verlangen, Angst zu besiegen, die Suche nach Antworten auf Rätsel – sowohl in der echten Welt als auch in Spielwelten ausgelebt. Spiele sind für Caillois somit vom Leben klar abgegrenzte alternative Welten, in denen Menschen Optionen durchspielen können – und manchmal auch jene Erfüllung und Zufriedenheit finden, die ihnen das Leben verwehrt.