Spielen - viel mehr als Unterhaltung und Zeitvertreib
Eigentlich ist jeder Mensch ein Spielexperte. Neugierig haben wir spielend unsere Umwelt als Kleinkind erforscht und begriffen. Wir haben gelernt, mit Lauten zu spielen, diese Geräusche nach den Regeln und der kulturellen Bedeutung in Worte und gar nach den Spielregeln der Grammatik in Sätze zu gießen. Es entstehen zahlreiche Sprachspiele. Erst nachahmend, dann selbstbewusst haben wir Rollen in dem realen Gesellschaftsspiel um uns herum identifiziert, die zu uns passen oder nicht.
Mit den Gegenständen unserer Umwelt haben wir angefangen, durch Konstruktion und Destruktion unsere Selbstwirksamkeit in Bezug auf die materiellen Dinge um uns herum spielerisch auszuprobieren. Wir erlangen eine Kontrollüberzeugung, einen Selbstwert innerhalb des von uns entwickelten Selbstkonzeptes (Was kann ich wissen? Was kann ich tun? Was kann ich glauben?), mit dem wir einzelne Begriffe und Weltanschauungen für uns persönlich deuten und bewerten.
Unsere Fragen an das Leben, die Natur, die Liebe, die Arbeit, die Macht und Herrschaftssysteme sowie den Tod, die Endlichkeit von allem, versuchen wir spielend zu beantworten. Philosophen stellen seit Jahrtausenden Fragen an das Leben und den möglichen Sinn dahinter (s. Bild rechts von Raffael "Die Schule von Athen" im Vatikan).
Exploratives Spiel: Aus Unsicherheit spielerisch Sichheit machen,
unsere Realität im Spiel erfahren und im wahrsten Sinne begreifen
Wir machen uns phantasievolle Vorstellungen davon, erfinden sichheitsstiftende Ordnungen mit regulativen Ideen, tun so, als ob es einen oder mehrere Götter gibt, leben in der Illusion, dass das Geld in unserem Portemonnaie einen Wert hätte oder identifizieren uns mit einem Nationalstaat, dessen Bürger wir sind, auch wenn uns die handelnden Politiker arg fremd sind. Wir spielen jeden Tag. Mal ist es uns mehr, mal weniger bewusst. Mal nehmen wir die Herausforderungen des Spiels oder Gesellschaftsspiels mehr ernst, mal weniger.
Krisen der Menschheit
Seit Jahrtausenden erleben Menschen Krisen. Anfänglich hingen diese Krisen mit dem Problem zusammen, die Gewalten der Natur unter Kontrolle zu bringen. Wir wollten nicht von hunrigen Löwen verspeist werden, wollten uns vor Hitze, Kälte, Regen und Überschwemmungen schützen. Krisen waren früher gleichzusetzen mit Naturkatastrophen, die zu Tod, Krankheiten und Hungersnöten führten.
Die Menschheitsgeschichte, unsere kulturelle Entwicklung mit innovativen Techniken und nach Effektivität und Effizienz suchenden Wirtschaftsmodellen bis hin zum Kapitalismus haben uns Menschen in vielen Regionen dieser Welt auf ein historisch einzigartiges Wohlstandsniveau gebracht und zu einer Bevölkerungsexplosion mit aktuell fast 8 Milliarden Homo sapiens global geführt.
Gleichzeitig wird uns mit der bevorstehenden Klimakatastrophe bewusst, dass wir mit unserem ressourcenfressenden Wirtschaftssystem und der damit verbundenen extremen Energietransformation mit fossilen Brennstoffen auf eine Zerstörung unseres Planeten Erde und eine Vernichtung eines Großteils dieser Menschheit zusteuern, wenn wir nicht lernen, unser Verhalten zu verändern.
Spätestens seit der Veröffentlichung der Studie "Die Grenzen des Wachstums" vom Club of Rome 1972, vor 50 (in Worten: fünzig!) Jahren, ist den Menschen bewusst, dass der ungezügelte Kapitalismus zumindest in eine humane Sackgasse mit berechenbar endlichen, natürlichen Ressourcen führt.
Taschenbuchausgabe der Studie "Die Grenzen des Wachstums"
vom Club of Rome 1972
Warum können die seit Jahrzehnten warnenden Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen mit ihren Hinweisen und Argumenten bei den Politikern oder dem einzelnen Menschen als Konsument nicht so ins Bewusstsein durchdringen, dass eine vielleicht rettende Verhaltensveränderung stattfindet? Warum bestreiten anscheinend gut gebildete Menschen kontinuierlich wissenschaftlich ermittelte Fakten? Die Menschheit steuert auf eine globale Katastrophe zu und viele Menschen glauben lieber, dass die Party so weitergeht, wie bisher. Faktenleugner werden mit ihren "alternativen" Fakten bei demokratischen Wahlen in manchen Ländern lieber gewählt, als Realisten. So wird ein Trump in den USA Präsident und die Briten entscheiden sich trotz offenkundiger Lügen für einen Premierminister Boris Johnson und einen Brexit.
Donald Trump als "Joker" in der Verkörperung des Bösen
Wir müssen an den Kern des Problems herankommen. Und uns bewusst werden, dass unsere Kultur, die von uns individuell genutzten Ordnungen, Deutungen und Bewertungen erfunden sind. Wir nutzen regulative Ideen, um unser Verhalten zu steuern. Wir orientieren uns an Glaubenssystemen, an Bewertungen von Gut und Böse, erschaffen uns Normen, Werte und Einstellungen, die unsere Identität und Persönlichkeitsentwicklung ausmachen. Dies sind jedoch keine empirisch belegbaren Naturgesetze sondern Gedankenspiele.
Gedankenspiele und Empfindungen, das Spiel mit den Gefühlen
Mit Hilfe dieser Referenzsysteme, worauf unsere Überzeugungen basieren, die unser Verhalten beeinflussen und steuern, treffen wir täglich als Individuum ca. 25.000 Entscheidungen. Warum stehe ich heute auf? Wasche ich mich? Esse ich Brot oder Müsli zum Frühstück? Ist es mir wichtig, ob das mein Frühstücksei von glücklichen Hühnern stammt? Braucht meine Zahnpasta blaue oder rote Streifen? Was ziehe ich heute an? Fahre ich mit dem Auto, dem Bus, dem Fahrrad zur Arbeit? etc. etc. Diese Masse an täglichen Entscheidungen sind uns zumeist gar nicht bewusst. Sie verlaufen intuitiv, automatisch, gedanken- und damit für uns selbst engeriesparend, weil uns die Dimensionen und die Tragweite jeder einzelnen Entscheidung gar nicht klar ist. Und wenn sie uns klar ist, wie kommen wir da raus?
In unseren konsumierten Produkten könnten schädliche Chemikalien oder Mikroplastik enthalten sein? Der Plastikmüll, den wir mit unserem Konsum produzieren, bedroht die Weltmeere? Meine Heizung finanziert Putins Krieg in der Ukraine? Mein Auto, meine Reisen und mein Fleischkonsum vernichten das bisher von uns gekannte und geschätzte Weltklima?
Werbung versucht unsere Aufmerksamkeit zu erlangen
Professionelle Kommunikation, Reklame, Werbung und Marketing versuchen, uns bei der Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Standardprodukte werden werblich in ein Storytelling eingebettet, um sie angereichert mit Emotionen und besseren Erinnerungswerten verkaufen zu können. Aufmerksamkeitserregung, das Wecken von Interesse, Entscheidungsunterstützung bis hin zur Kaufhandlung mit anschließendem After-Sales-Gespräch sollen unsere Empfindungen positiv gestalten. Das schaffen Geschichten mit guten Gefühlen. Ausgeblendet werden dabei die erwänten Umweltschäden, die massenhafte Plastikschmutzung und die Vergiftung durch den Konsum- und Verpackungsmüll.
Plastikmüll als Problem der Konsumgesellschaft
Despoten und Kriegstreiber, wie der russischen Präsident Wladmimir Putin (*1952) vertiefen sich in Lügen, wiederholen diese ständig, bauen eine Narration auf, die nichts mit der wahrgenommenen Wirklichkeit anderer Menschen zu tun hat. Putin erlies ein Mediengesetz, das seinen menschenverachtenden, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine ab dem 24.02.2022 nicht als "Krieg" sondern nur als "Spezialoperation" bezeichnen darf. Bei der Verwendung des falschen Wortes, was seiner Narration nicht entspricht, drohen dem Schreiber und Verwender dieses Wortes "Krieg" 15 Jahre Haftstrafe. Den Russen soll ausschließlich Putins Geschichte als absolut wahr erscheinen, mit der er so tun möchte, als ob sein Krieg gegen die Ukraine gerechtfertigt wäre. In einem Angriffskrieg zerbombte Städte und ermordete Menschen sind nie zu rechtfertigen. Das weiß auch Putin. Aber weil er es trotzdem will, erfindet er eine andere Geschichte.
Romanklassiker des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi (1828-1910) "Krieg und Frieden" als humoristischer Internet-Meme in Anspielung auf Putins Umdeutungsversuch
Im Mittelalter wurden Menschen bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen verbrannt, z.B. bei der Inquisition (s. Johannes Capistranus), wenn sie nicht an die Mythen und Geschichten der Bibel glaubten. Geschichten sind, so wie Spiele, prinzipiell nicht unschuldig.
Unsere menschlichen Sinne liefern individuell unterschiedliche Empfindungen. Gelesene oder gesprochene Worte verbindet unser Gehirn mit Bedeutungen, mit Bewertungen. Jede Begriffsbildung ist ebenso ein Urteil. Schon Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) erklärte, dass unser menschlicher Verstand mit den Begriffen dieser Welt Bewertungen verknüpft. Also müsste es doch so etwas geben, was unsere Empfindungen "ordnet", sie in eine räumliche und zeitliche Einheit bringt. Es stellt sich die Frage nach der menschlichen Erkenntnis und die sich daraus ergebende Frage nach einer fast unmöglich erscheinenden Objektivität im Einzelfall. Diese Fragestellungen führen uns zur Philosophie und ihre Jahrhunderte dauernden Diskussion um Wahrheit, Erkenntnis und Logik.
Fiktionen, Illusionen, Als-ob-Ideen beeinflussen unsere Entscheidungen
Der berühmteste preußische Philosoph der Aufklärung war Immauel Kant (1724-1804) aus Königsberg. Mit seiner "Kritik der reinen Vernunft" aus dem Jahre 1781 legte er eines der schwierigsten Werke der Weltliteratur vor und zahlreich folgende Philosophen haben sich aufbauend auf seinen Ausführungen ergänzende Theorien ausgedacht, wie z.B. Hans Vaihinger (1852-1933) mit seiner Philosophie des Als-Ob (Artikel zum "Als-Ob-Prinzip" hier auf ludologie.de).
Kant geht davon aus, dass alle Erkenntnis des Menschen mit seinen Erfahrungen anfangen, die ihm seine Sinne schenken. Damit geht zeitlich gesehen jede Erfahrung einer Erkenntnis voraus. Im tätigen Spiel sammeln Menschen darüber hinaus Erfahrungen, die ihnen die reale Welt nicht liefert. Gibt es nun eine "reine Vernuft", eine Erkenntnis, die jenseits jeder Erfahrung, also jeglicher Erfahrung vorausliegend besteht?
Sinnlichkeit und Verstand des Menschen wirken bei jeder Erkenntnis zusammen und der Mensch sei bestrebt, die Vielfalt seiner Eindrücke zu vereinheitlichen, um sie zu einer vollkommenen Einheit zusammenzuführen. Kant ist der Auffassung, dass die Vernunft zu einem "Unbedingten" hinstrebt, sie würde geleitet werden von gewissen "leitenden Vernunftsbegriffen", den Ideen. Er nennt diese Ideen auch "regulative Prinzipien". Die Vernunft gäbe dem Menschen mit seinem Verstand Regeln, wie er verfahren, sich verhalten soll. Spielregeln, regulative Ideen, die als Sollvorschriften zu verstehen sind, als richtungsweisender Kompass in unserem Inneren. Diese regulativen Prinzipien werden seit Jahrtausenden durch Menschen in Geschichten, Mythen, Sagen, Stories und Spielen sowie Kunst und Musik kommuniziert.
"Die Idee der Seele sagt zu mir: Du sollst alle psychischen Erscheinungen so verknüpfen, als ob ihnen eine Einheit, die Seele, zugrunde läge. Die Idee der Welt: Du sollst die Reihe bedingter Erscheinungen so verbinden, als ob ihnen eine unbedingte Einheit, die Welt, zugrunde läge. Die Idee Gottes: Du sollst so denken, als ob es zu allem was existiert, eine erste notwendige Ursache, den göttlichen Schöpfer gäbe." (vgl. Hans-Joachim Störig: "Kleine Weltgeschichte der Philosophie", Frankfurt a.M. 1987, S. 404)
Für uns Menschen selbst (Seele), dem Akteur zwischen Geist und Materie (Welt) gibt es nun vielfältige Ideen die unterschiedliche Kulturen entwickelt haben, um die Fragen ordnend und wertend zu beantworten, was wir Menschen eigentlich sind, warum wir leben, was Sinn ergibt, wohin wir im Leben streben sollten und wie eventuell ein Leben nach dem Tode in einer Ewigkeit aussehen könnte. Aus der menschlichen Phantasie entspringen Dinge, Muster, Interpretationen der Wirklichkeit und damit Ideen und gesellschaftliche Spielregeln, Gesetze, Gebote, Religionen und Wissenschaft.
Wir Menschen wissen nicht, was ein Atom ist und kennen nicht seine Funktionsweisen, aber wir haben eine Idee davon. Religionen haben keinen Gottesbeweis, aber das Glaube tut vielen Menschen seelisch gut und diese Menschen werden statistisch nachweisbar älter. Wir wissen, dass all unser Geld im Kapitalismus keinen entsprechenden materiellen Gegenwert hat und glauben trotzdem daran, dass die Zahl auf unserem Kontoauszug der Bank eine Gültigkeit und Verwendbarkeit hat.
Menschen haben Ideen, Phantasien, Fiktionen, gar Illusionen, die denkmöglich sind und uns gut tun. Wir implementieren diese "Als-Ob"-Ordnungen mit ihren regulativen Ideen in unser Leben und steuern unser Verhalten danach. Ist es auch gut so, weil es nützlich ist? Wir entwickeln Ideen von Nationalstaaten, Wirtschaftssystemen und Währungen sowie Glaubenssystemen und unterstellen ihnen gerne eine absolute Wahrheit, damit wir uns nicht über Alternativen Gedanken machen müssen. Aber wer war der Game-Designer dieser Gesellschaftsspiele? Die Aufklärung und Immanuel Kant haben sich bemüht, die als absolute Wahrheiten verkündeten Geschichten und Gedankenspiele der Kirche in Frage zu stellen. Schon davor ging's los. Nikolaus Kopernikus (1473-1543) zerstörte mit seinem wissenschaften Beweis für unser existierendes Sonnensystem den Glauben an das geozentrische Weltbild der katholischen Kirche.
Gedankenspiele, Fiktionen, das "Als-Ob" in den Religionen und die Verkündung absoluter Wahrheiten hängen eng mit den Geschichten, Erzählungen, Mythen und Sagen zusammen, die wir Menschen auf der Suche nach Orientierung und Identifikation brauchen
Die Frage, was die Aufklärung ist, beantwortet Kant im 1784 in der Berlinische Monatszeitschrift: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. 'Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!' ist also der Wahlspruch der Aufklärung." (Quelle: Deutsches Textarchiv).
Bei welchem Spiel, Gesellschaftsspiel spielen wir mit und warum? Sind wir mündig? Haben wir unser Verhalten bewusst entschieden? Welche Glaubenssätze begleiten uns in unserem Leben, um Entscheidungen und Urteile zu fällen? Und könnten wir nicht mit Mut zu einem Game-Changer werden? Laut Aufklärung sind wir die Game-Designer unseres eigenen Lebens. Worauf referenzieren unsere Gedankenspiele? Wie ordnen wir die Welt und unsere Verantwortung für uns, unsere Kinder und die Natur? Kant schlägt dafür den kategorischen Imperativ als grundlegendes Prinzip, als Regelwerk des menschlichen, moralischen Handelns vor.
Gedankenspiele von Immauel Kant
Wie können Menschen den Unterschied des phantasievollen Denkens (Ideen) und des logischen Erkennens (empirisch belegte Fakten) annehmen und dies auch noch von einer möglichen, sinnlich initiierten Erfahrung trennen? Braucht es dazu Regeln? Mit der "Kritik der praktischen Vernunft" von 1788 versucht Immanuel Kant darauf Antworten zu finden. Der Mensch ist ein erkennendes und handelndes Wesen, dessen Gesetze (Regeln) der praktischen Vernunft nur einen fordernden Charakter haben. Sie zwingen uns nicht. Wir Menschen können uns den Befehlen, den Regeln anderer oder der Gesellschaft widersetzen oder sie ignorieren. Die praktischen Gesetze sind "Imperative" (Weisungen). Mit den kategorischen Imperativen gehört der Mensch zwei Welten an, der Welt der Erscheinungen und seiner Erkenntnisse, aber er gehört ebenso einem über seine eigenen Sinne über Raum und Zeit hinausgehenden Reich der Freiheit an, wo er mit seinem Willen zu entscheiden hat, ob er einem kategorischen Imperativ folgen möchte. Oder wie Kant es formuliert: "Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."
Dieses moralische Gesetz der "praktischen Vernunft" ist ein Leitspruch, eine Lebensregel: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."
(Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Bd. V, S. 35).
Dabei schimmert die "Goldene Regel" zahlreicher Religionen und philosophier Ansätze und der praktischen Ethik durch: "Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst." In der jüdisch-christlichen Prägung geht es um das Gebot der Nächstenliebe: "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst."
Philosophien und Religionen formulieren solche Lebensregeln, weil der Mensch nicht über die sozialen Instinkte der Natur verfügt, wie Bienen- oder Ameisenvölker. Er kommt unkonfiguriert, unfertig und unvollständig auf diese Welt und muss erst mühsam das Miteinander lernen, verstehen, wir er über sich selbst hinaus wachsen kann, andere Regeln zu akzeptieren, als nur an sich selbst zu denken. Besteht irgendwann der persönliche Wunsch, als kleines Wesen Teil eines größeren Ganzen werden zu wollen? "Was weiß der Tropfen vom Meer?", "Was weiß das Sandkorn von der Wüste?" Wie sieht dieses Ganze aus? Und wer hat dort die Spielregeln im Detail ideenreich, phantasievoll, kreativ konfiguriert und in eine stimmige Geschichte gepackt?
Das Teil und das Ganze: Was weiß der Tropfen vom Meer?
Deutung, Bewertung, Urteilskraft und das ästhetische Spiel
Mit der "Kritik der Urteilskraft" von 1790 wendet sich Kant gezielt dem Gefühl und der Phantasie zu. Aber gibt es für unsere menschlichen Gefühle einen allgemein gültigen Maßstab, um Urteile, Entscheidungen fällen zu können? Gefühle rühren von unseren Bedürfnissen her und zu ihrer Befriedigung setzen wir uns Ziele, beginnen wir eine Zweckmäßigkeit zu entwickeln und Ideen zu entwickeln, wie wir die Ziele durch unsere Handlungen erreichen. Hier beginnt das Menschenbild des Homo oeconomicus mit seinem angeblichen Rationalismus und seiner Nutzenmaximierung. Aber solche Gefühle sind prinzipiell subjektiv. Bin ich hungrig, bin ich satt? Was ist, wenn der Ressourcenhunger aller Menschen für die gewünschte Energietransformation die Existenz der Menschheit insgesamt auf dem Planeten Erde gefährdet?
Eine objektive Zweckmäßigkeit ließe sich nach Kant nur über die Ästhetik beschreiben. Das sogenannte "Schöne" ruft in uns Menschen ein Gefühl der Harmonie hervor. Ein lebendes Wesen kann ein Teil nicht ohne das Ganze denken und das macht die Harmonie aus. Aber Menschen wollen gar nicht immer in Harmonie leben... s. oben, Despoten, Autokraten, Diktatoren verfolgen Eigeninteressen und die Bedürfnisse anderer Menschen sind ihnen innerhalb ihrer Geschichten und Ideen egal. Angeekelt und enttäuscht von der Brutalität und Gewalt der Französischen Revolution machte sich Friedrich Schiller (1759-1805) grundsätliche Gedanken zur Ästhetik und dem Spiel. Für ihn durfte die Veränderung einer Gesellschaft nicht über den Weg der Gewalt führen.
Kants "Kritik der Urteilskraft" hatte auf Schillers schriftstellerisches Werk einen starken Einfluss.Schiller war der Auffassung, dass die Fokussierung Kants auf den Verstand und die menschliche Vernunft nicht für eine zivilsatorisch fortschrittliche und aufgeklärte Gesellschaft ausreichen würde, um politische Freiheiten verwirklichen zu können.
Für ihn muss der Weg des poltzischen Wandels über die Ästhetik erfolgen. Der sinnliche Trieb des Menschen müsste zu einem ästhetischen Trieb ausgebildet werden. Wie solle das geschehen? Mit dieser während seiner Krankheit selbst formulierten Forschungsfrage erhielt Schiller den "Auftrag" vom schleswig-holsteinischen Herzog Friedrich Christian II. von Schloss Glücksburg an der Flensburger Förde (s. Bild) und dem dänischen Finanzminister, sich Gedanken über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen zu machen, die er für die beiden Mäzene schrieb.
Schloss Glücksburg, erbaut ab 1582, Wasserschloss in der Nähe der Flensburger Förde und Residenzschloss für die Herzöge in Schleswig-Holstein, wie auch der dänischen Könige als Sommerresidenz. Mit König Christian IX. erhielt es durch die Heiraten seiner Töchter und Söhne in allen europäischen Adelsdynastien Verwandschaftsbeziehungen. Mit der Finanzierung von Friedrich Schiller 1795 wurde von hier aus ein wesentlicher Beitrag für die Spielwissenschaften geleistet.
Im Spiel ist nach Schiller der Mensch frei von moralischer oder physischer Nötigung. Dies sei das entschreidende Element für die Harmonie des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt. Rationalität (Formtrieb) sowie Emotionalität, Affektinonalität (Stofftrieb) seien im Spiel vereint (s. Schaubild). Sein Kernsatz: Beim Spielen "...ist man in der glücklichen Mitte zwischen Gesetz und Bedürfnis."
In seinem 16. Brief von 1795 formuliert Schiller den wohl von ihm meistzitierten Satz: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Damit legt er für die modernen Spielwissenschaften das gedankliche Fundament und das damit verbundene Erklärungsmodell des Homo ludens, des spielenden Menschen, der seine kulturellen Fähigkeiten vor allem im Spiel entwickelt (s. Johan Huzinga, 1938).
Was führt uns Menschen bei allen Unterschieden in Bezug auf kategorische Imperative und ein Ästhetikverständnis zusammen? Ideen, die wir wahrnehmen und ernst nehmen, auch wenn sie nur Gedankenspiele sind. Über einen kommunikatinen Austausch gelangen Mythen, Erzählungen und Storytelling, Spiele und Kunst (Illusionsspiel) in unser Bewusstsein, erreichen unsere Gefühle, die unsere Urteilskraft konfigurieren.
Mythen, Geschichten, Storytelling
Erfundene Ordnungen mit ihren regulativen Ideen machen soziales Verhalten möglich und formen unsere Identität. Wir identifizieren uns mit etwas, mit einer Idee. Diese Fiktionen geben uns das Gefühl, als ob sie wahr seien. Nützliche Fiktionen erfüllen also einen lebenspraktischen Zweck. Über den gedanklichen Umweg eines "Als Ob", so wie in jedem Spiel, fühlen wir uns solange sicher und geborgen, weil wir eine Kontrollüberzeugung gewinnen, ein Selbstwertgefühl mit unserer Selbstwirksamkeit aufbauen, wir mit Hilfe einer Abstraktion glauben, Wahrheit und Erkenntnis gewonnen zu haben. Geschichten ordnen das durch Zufälle getränkte Chaos der Natur. Es entsteht spielerisch Kultur, ein Bild, eine Vorstellung, eine Deutung, bei der uns klar wird, was gut und was böse sein könnte. So kommen wir zu Urteilen und Bewertungen.
Die Probleme beginnen dort, wo ein Gedankenmodell, ein Weltbild neu entstehen muss. Wo wir als Menschheit mit Gedanken neu spielen müssen, kreativ werden müssten, Glaubenssätze austauschen müssten. Ist ökonomisches Wachstum immer nur gut? Wann wird Wachtstum zum Krebsgeschwür und bringt uns um? Oder könnten wir Wachstum unabhängig von Geld und materiellen Gütern denken? Wie gestalten wir den Weg von der Erkenntnis, der Diagnose bis zu einer hilfreichen Therapie? Was macht mein persönliches Glück, meine Zufriedenheit aus? Habe ich eine Idee, wie ich es verwirkliche? Was passiert, wenn ich dieses Ziel erreicht habe? Und was ist, wenn ich mich geirrt habe und aller materieller Wohlstand mir keine innere Zufriedenheit liefert? Kapitalismus, Neoliberalismus, Keynsianimus, Monetarismus, ebenso der Sozialismus und der Kommunismus predigen Überzeugungen und Ideen für eine human anmutende bessere (gerechtere?) materielle Weltordnung.
Große Luxus-Yachten am Mittelmeer im italienischen Hafen von Portofino bei Genua im Kontrast zur historischen Bebauung
Die Menschheitsentwicklungsgeschichte liefert zahlreiche Narrative und Ismen (Lehrmeinungen). Sie bilden den erzählerischen Rahmen, die Geschichten mit ihren jeweiligen Werturteilen. Ideen, Fiktionen werden in Worte, Handlungsstränge (Plots) mit epischen oder dramatischen Storys verpackt. Auch wissenschaftliche Fakten und Prognosen können von solchen Rahmen beeinflusst sein, weil das Drumherum als Fiktion, die Analysewerkzeuge sowie die Bewertungen der jeweiligen Einflussfaktoren bestimmt. Den Geschichten liegen Vorstellungen, Visionen, Annahmen zu Grunde, in der Hoffnung, erstrebenswerte gesellschaftliche Ziele zu erreichen.
Welche zentralen Elemente, Glaubenssätze und Ideen prägen ein Gesellschaftssystem? Welche Spielmechanismen setzten die Game-Designer, Autoren oder Storyteller in ihren Erzählungen und emotionalen Erlebniswelten ein, die sie kreieren? Wie entstehen daraus kulturprägende Geschichten?
Erfolgreiche Gedankenspiele
Geschichten mit ihren Gedankenspielen brauchen ein Medium, einen Erzähler, ein Brettspiel, ein Theaterspiel, ein Kunstwerk (Illusionsspiel), ein Buch, eine Zeitung, ein Hörspiel im Radio, einen Film oder ein Computerpsiel (Game) für den PC oder auf dem Smartphone.
Was ist der Auslöser für eine gute, erfolgreiche Geschichte? Mit einer Krise, einem elementaren Konflikt, beginnen die Herausforderungen. Ernährungskrise, Lebenskrise, Sicherheitskrise, Moralische Krise, Kulturkrise, Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Demokratiekrise, Umweltkrise, Gesundheitskrise (Pandemie...), Wertekrise, Kirchenkrise, Sinnkrise... Krisen sind der Garant für eine hohe Mediennutzung. Und wenn's gerade keine Krise gibt, wird ein Skandal erfunden, um die Auflage der Zeitung hoch zu halten, die Einschaltquote im TV nach oben zu treiben oder die Klickzahlen auf der Website zu erhöhen.
In den Krisen stecken Bedrohungen, Risiken, Gefahren für einzelne oder Gruppen von Menschen. Zur Lösung dieser Herausforderungen braucht es Heldinnen und Helden, die mit ihren Fähigkeiten, ihren Fertigkeiten, ihrem Mut die Prinzessin, die Stadt oder gleich die ganze Menschheit retten, wie James Bond, 007, im Dienste seiner Majestät. Gut und böse sind wohl sortiert. Es entsteht eine gedankliche Ordnung, das Gute ist zu schützen, das Böse ist abzuwehren, die Menschen sind vom Elend, dem Tod oder sonstigen Plagen zu befreien. Am Horizont schimmert eine wunderbare Zukunft, ein Happy End, Heirat, viele Kinder und ein glückliches, vielleicht gar ewiges Leben.
Das Labyrinth als Symbol einer schwierige Herausforderung, wo uns ein effizenter Lösungsweg nicht offensichtlich erscheint
In der griechischen Heldensage der Antike ist in der Mitte des Labyrinths der Minotauros, ein böses Mischwesen aus Mensch und Stier, gefangen. Von diesem Ungeheuer musste der Held Theseus die Athener befreien in dem er sich in das Labyrinth hereintraute, das Monster mit Ariadnes Fadentrick und Schwert tötete.
Der Minotauros, Mischwesen aus Mensch und Stier,
Verkörperung des Bösen (Foto: Labyrinthehaus in Altenburg)
Die Gründungssage von Rom und dem späteren Römischen Imperium (ab 753 v.Chr.) erzählt von Romulus und Remus, den Zwillungsbrüdern, die von der Wölfin gesäugt wurden.
Römische Gründungssage mit den ausgesetzten Zwillingen Romulus
und Remus, von der Wölfin gesäugt
Im altägyptischen Brettspiel Senet ("passieren", "durchqueren") um ca. 3000 v. Chr. beginnt die Reise auf dem Feld Geburt. Das Spielziel ist das Ankommen bei den fünf Gottheiten Horus, Re (Osiris), Month (Thot), Schu, Maat. In der Balsamierungswerkstatt wurden die Toten auf den Übergang in die Welt der Götter vorbereitet, wurden sie von ihren Sünden gewaschen und der Spieler übernimmt mythologisch die Rolle als Entscheider über deren Schicksal in diesem Laufspiel.
Senet, ägyptisches Brettspiel, symbolisiert den Lebenslauf, mit dem Ziel,
neben den Gottheiten nach dem Tode Platz nehmen zu dürfen
Die Gedankenspiele rund um die Idee des Lebens nach dem Tode sind Bestandteil zahlreicher historischer Brettspiele. Das Königliche Spiel von Ur aus Mesopotamien oder das indische Spiel Pachisi (Grundlage der europäischen Spielkultur) handeln vom mühsamen Lebensweg, mit Rauswurf, Tod und Wiedergeburt, mit dem Ziel, endlich im schmerzfreien Paradies anzukommen. Religionen sind erfundene Ordnungen, besitzen regulative Ideen und kommen mit eindringlichen, emotionalen Geschichten sowie erlebbaren Spielerfahrungen daher.
Mit dem Einsatz einer Geschichte oder einer Verfassung, eines Grundgesetzes ist die Idee verbunden, dass eine Gesellschaft trotz ihrer vielfältigen Individuen ein organisch Ganzes bildet und darstellt. Wenn diese Idee nicht trägt, das System Gesellschaft nicht dadurch verbunden wird, hört sie auf zu existieren, zerfällt. Kulturen, Staaten, Gesellschaften, Vereine kommen und gehen. Als nachhaltig erfolgreich kann man die Gesellschaftssysteme mit ihren Ideen des Zusammenlebens bezeichnen, die langfristig Bestand haben. Bis die Deutschen den deutschen Nationalstaat gründetet, brauchte es Jahrhunderte. Bis aus Briten, Pikten (Schotten), Kelten, Angelitern, Sachsen, Jüten, Normannen ein Vereinigtes Königreich auf dieser eigentlich nicht sehr großen Insel wurde, bedufte es vieler Kämpfe, Kriege und Verhandlungen. Und trotzdem oder gerade deshalb entstand daraus recht zügig die Industriealisierung mit Aufklärung und Kapitalismus.
Fortsetzung folgt.