Die ersten Versuche spielwissenschaftlicher Untersuchungen wie bspw. der des Spielverhaltens (Play Behavior) waren zumeist von einer disziplinären Herangehensweise geprägt. Dabei geschahen das Aufstellen und Operationalisieren von Hypothesen aus der Perspektive einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin. Ein zweiter Ansatz nähert sich der Untersuchung spielwissenschaftlicher Phänomene zwar aus unterschiedlichen Perspektiven, führt diese aber weder konzeptionell noch methodisch zusammen. Der frühe Ludologe Joseph Levy trieb als einer der ersten Wissenschaftler transdisziplinäre und interdisziplinäre Ansätze zur Untersuchung von Spielverhalten voran. In seinem Werk Play Behavior (1978) präsentiert er ein konzeptionelles Paradigma, welches die Perspektiven unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen zusammenbringt und somit eine „rigorose, zusammenhängende und holistische“ Erforschung des Spielkonzeptes ermöglicht. Dieses „Play Paradigma“ schafft konzeptionellen Raum für die wissenschaftliche Analyse von Determinanten (warum wir spielen), Charakteristika (was wir spielen), Strukturen (wie wir spielen) und Konsequenzen (welche Auswirkungen das Spielverhalten hat) des Spielens sowie der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Komponenten. In diesem Sinne, ist das Framework Ausdruck von Levy’s Bestreben, eine „grand theory of play behavior“ zu entwickeln, die alle bis dato verbreiteten Theorien des Spielverhaltens umfasst und dadurch klassische, psychoanalytische, entwicklungsorientierte und ökologische Erklärungsansätze miteinander vereint.
Levy’s Rahmenkonzept fußt auf wichtigen Ideen einflussreicher Pionierforscher auf dem Gebiet der Ludologie, die die Interaktion zwischen Person und Umwelt als Ursprung und entscheidende Determinante jeglichen Spielverhaltens betrachten. Johan Huizinga (1955), dessen Einfluss auf die Spielforschung in beinahe jeder relevanten Fachveröffentlich ersichtlich ist, machte deutlich, dass das Spielverhalten, mehr als jede andere menschliche Verhaltensform, zur kulturellen Weiterentwicklung und dem Aufblühen der Zivilisation beigetragen hat.
Doch Spielverhalten ist nicht nur als Ursprung der menschlichen Sozialisierung zu sehen, sondern kann gleichermaßen als Konsequenz sozio-kultureller Strukturen dargestellt werden. Roberts & Sutton-Smith (1962) verglichen das Spielverhalten unterschiedlicher Kulturkreise und fanden beispielsweise heraus, dass in religiös geprägten Kultursystemen, in denen das Wertebild den Einfluss übernatürlicher Kräfte betont, häufig Glück oder Zufall (chance) als vorherrschende Spielelemente zu finden sind. Spiele, deren Ergebnis vorrangig von mentalen oder physischen Fähigkeiten des Spielers (skill) abhängt, treten hingegen vermehrt in leistungsorientierten Gesellschaften auf, in denen der Glaube verankert ist, dass der Mensch sein Leben selbst in der Hand hat und die Fähigkeiten besitzt, Einfluss auf seine Umgebung auszuüben. Strategische Spiele (strategy), bei denen die Qualität kognitiver strategischer Entscheidungen höheres Gewicht hat, sind wiederum beliebter in „strukturell komplexen“ Gesellschaften.
Darüber hinaus greift Levy’s „Play Paradigma“ eine der ältesten und akademisch ertragreichsten Charakterisierungen von Spielformen. Das Klassifikations-System des französischen Anthropologen Roger Caillois (1961) basiert auf der Erfüllung vier menschlicher Grundbedürfnisse:
- Agon: Der Drang nach Wettbewerb und Konkurrenzkampf
- Alea: Das Bedürfnis danach, sein Schicksal dem „kontrollierten Zufall“ zu überlassen
- Mimicry: Das Bedürfnis, seine eigenen Einschränkungen mittels Maskierung oder Nachahmung zu überschreiten
- Illinx: Der Drang nach Rausch, Schwindel und Risiko
Jens Junge, der Direktor des Instituts für Ludologie, und seine wissenschaftlichen Mitarbeiter haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Geist Joseph Levy’s neu aufleben zu lassen und eine umfassende Theorie der Spielwissenschaften zu ersinnen, die den gesellschaftlichen Strukturen und dem Wissensstand im 21. Jahrhundert gerecht wird. Und auch wir Ludologen können uns auf die Schultern von Riesen wie Huizinga, Sutton-Smith und Caillois stützen, wenn wir uns spielwissenschaftliche Erkenntnisse zunutze machen, um Lösungen für die brennenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit zu finden.