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Machtspiele und Glücksspiele - Ein Urphänomen des Menschen

Mehrere Anthropologen haben sich im 20. Jahrhundert mit den damals noch "unberührten" Kulturen der Jäger und Sammler beschäftigt. In Afrika lebten manche Volksgruppen noch so, wie wir Menschen als Homo sapiens vor 315.000 Jahren angefangen zu leben. Wir waren ein Teil der Natur, lebten davon, was und wie uns diese Natur reichlich beschenkt hat. Es war in diesen klimatischen Regionen Afrikas damals, wie auch bis in unsere Neuzeit nicht notwendig, Vorräte anzulegen. Der normale "Arbeitstag" eines Menschen bezog sich auf die tägliche Nahrungsbeschaffung und betrug ca. 2-3 Stunden. Was taten die Mensche den Rest des Tages? Eine der Tätigkeiten und Antworten: Spielen. Dieses Spielen hatte eine wichtige soziale, gesellschaftliche Bedeutung. Es war viel mehr als Zeitvertreib.

Spieleinsatz bei den Hadza: Wertvolle Giftpfeile

Spieleinsatz bei den Hadza: Wertvolle Giftpfeile

Afrika gilt als Wiege der Menschheit. Der "Homo sapiens" hinterließ dort mit seinen übriggebliebenen Knochen und Schädeln Spuren, dass man von der Existenz der Menschen, die so aussahen, wie wir Menschen heute, von über 315.000 Jahren ausgehen kann. Archäologen und Antropologen suchen seit vielen Jahren nach der Antwort, woher wir kommen, wie der Mensch entstanden ist.

Klar scheint, dass die ersten Menschen als "Jäger und Sammler" zu bezeichnen sind. Über viele hunderttausende Jahre gab es offensichtlich keine andere Tätigkeit, die so auffällig war, wie die physische Existenzsicherung durch den Nahrungserwerb wegen des Grundbedürfnisses "Hunger". Auch wenn wir heute wissen, dass wir eigentlich diese Menschen als "spielende Menschen" bezeichnen müssten, weil sie wohl bezogen auf die Monatsarbeitszeit länger spielten, als zu arbeiten. Aber ebenso wissen wir, dass das Spiel erst entsteht, wenn der Mensch sich satt und sicher fühlt. Ein ausführlicher Beitrag zun den allgemeinen Themen der "Jäger und Sammler" steht bei Wikipedia.

Im folgenden Text werden zwei Forscher vorgestellt und sie kommen mit ihren Erfahrungen und Erzählungen zu Wort, weil sie sich mit den "Jägern und Sammlern" in Afrika ausführlich im 20. Jahrhundert auseinandersetzen, die noch so lebten, wie unsere Vorfahren, von der Hand in den Mund und wohl mit viel Spielspaß, mit den ersten Regelspielen als Glücksspiel.

 

Die Reisen von Ludwig Kohl-Larsen von 1934-1939

Mit welcher Motivation erkundet ein Nationalsozialist Jäger und Sammler in Afrika?

Der deutsche Anthropologe, Paläontologe und Arzt Prof. Dr. Ludwig Kohl-Larsen (1884-1969) besuchte im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) 1934 (!) zum ersten Mal die Hadzabe als Jäger und Sammler in Ostafrika, die er mit dem Spottnamen  ihrer Nachbarn nutzend, die "Tindiga" nannte ("Tindiga" - die laufen, aus Angst scheu davonlaufen). Sein Forschungsinteresse bestand darin, sich auf die Suche nach dem "Urmenschen" (oder sogar vom ihm noch 1956 als "Vormenschen" bezeichnet) zu machen. Kohl-Larsen war seit 1931, also schon zwei Jahre vor der Machtergreifung Hitlers 1933, Mitglied der NSDAP. Er gilt als Kolonial-Revisionist, glaubte, dass Deutschland seine ehemaligen Kolonien aus der Kaiserzeit, auch die in Ostafrika (heutiges Tansania), zurückbekommen sollte. Dies war in den 1930er Jahren eine weit verbreitete politische Auffassung, was in Publikationen, einem Sammelalbum (1934), einer Kolonialtagung (1935), einer Ausstellung (1936) oder einem Brettspiel "Deutschland braucht Kolonien" 1937 zum Ausdruck kam.

Nationalsozialistisches Buch als Sammelalbum für 150 Einklebebilder von 1934, gezeichnet vom Berliner "Kolonialmaler" Fritz Nansen, mit 2 Porträts (General Paul von Lettow-Vorbeck und Adolf Friedrich, Herzog zu Mecklenburg), 5 Landkarten und dem Gedicht von Hans Anton aus Aschenborn "Kolonien heraus!". Herausgegeben von der Tabakfabrik Oldenkott-Rees mit einem Vorwort von Paul von Lettow-Vorbeck (1870-1964), dem deutschen Generalmajor der "Schutztruppe für Deutsch-Ostarfika" bis 1918.

Das Sammelalbum der Tabakfabrik Oldenkott "Deutschland braucht Kolonien" ist in dem Jahr erschienen, als sich Ludwig Kohl-Larsen auf den Weg nach Ostafrika machte, um angetrieben vom nationalistischen Geist, Menschen aufzusuchen, die nach seiner Auffassung "Vormenschen" sein müssten, die kulturell zurückgeblieben seien, während sich die "arischen" Völker weiterentwickelt hätten. Mit einer solchen Überzeugung der Überlegenheit kam er aus Afrika 1939 zurück und wurde in Tübingen Professor für Völkerkunde.

Vom 13. bis 16. Juni 1935 fand in Freiburg die "Deutsche Kolonialtagung" statt. Offen wurde dort gefordert, dass Deutschland die alten Kolonien zurück bräuchte, weil es die Rohstoffe von dort nötig hätte. Kurz vor der Austragung der Olympischen Spiele 1936 im nationalsozialistischen Deutschland, wo die Völker der Welt zu einem Sportereignis zusammenkommen sollten, fand die Ausstellung "Deutschland braucht Kolonien" in der Hafenstadt Hamburg statt, die vom Fernhandel lebt.

Nationalsozialistische Kolonialausstellung vom Frühjahr 1936 in Hafenstadt Hamburg, vor der Olympiade in Berlin, mit der Kernaussage, dass Deutschland die Kolonien "zurück haben" wollte.


Das "Machtspiel" um Kolonien in Afrika fand auch im Brettspiel statt: "Deutschland braucht Kolonien". Ein simples Abfragespiel, bei dem derjenige das Spiel gewinnt, der am meisten Wissenkärtchen durch korrekte Antworten auf die Fragen nach den ehemaligen Kolonien erhalten hat. Schon auf dem Titelbild wird deutlich, dass Kaffee, Sisal, Kautschuk, Baumwolle und Ölpflanzen für einen Industriestandort Deutschland mit qualmenden Schornsteinen notwenidig sind. Jedoch mit dem Gedanken gepaart, diese nicht dort einzukaufen sondern als Kolonie auszubeuten.

Brettspiel "Deutschland braucht Kolonien", 1937, Sammlung "Deutsches Spielearchiv", Nürnberg

Auf der Grundlage dieses gesellschaftlichen Stimmungsbildes und mit der "passenden" nationalsozialistischen Gesinnung bezahlte die DFG Ludwig Kohl-Larsen als einen der ersten Völkerkundler für seine Forschungsarbeit "vor Ort" bei den Jägern und Sammlern.

Dokumentation der Lebensweise der Hadza ("Tindiga") und deren Glücksspiel

Die Dokumentation seiner Forschung erfolgte mit der damals sehr modernen, seltenen und somit teuren Methode der Filmaufnahmen. Diese Aufnahmen der "Deutschen Afrikaexpedition 1934-1936 und 1937-1937 unter der Leitung von Dr. Ludwig Kohl-Larsen zu den Jägern und Sammlern der "Tindiga", die sich selbst "Hadzabe" nennen, im damaligen "Tanganyika" (heute Tansania), waren die Grundlage für fünf Hochschulfilme: "Die Landschaft und ihre Bewohner", "Die Tindiga als Sammler", "Die Tindiga als Jäger", "Feuerbereitung und handwerkliche Fähigkeiten" sowie "Spiele und Tänze" (!). Diese fünf Filme wurden im Kriegsjahr 1941 von der "Reichsanstalt für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht" (RWU) produziert und herausgegeben.

Foto aus dem Dokumentionsfilm von Ludwig Kohl-Larsen (1941) mit Kindern der Hadzabe ("Die Tindiga") vom Freiburger Film Forum - Festival of Transcultural Cinema 2021

Im Zuge der Entnazifizierung in Deutschland verlor Ludwig Kohl-Larsen offiziell seine Professur an der Universität Tübingen, arbeitete jedoch ab 1949 wieder jahrelang am Institut für Ur- und Frühgeschichte, wo heute noch seine Sammlung verwaltet wird.

Der Erich-Röth-Verlag hatte seinen Sitz in Eisenach (Thüringen), in der DDR. Kurioser Weise hatte der Verleger dort von der Sowjetischen Militäradministration einen Lizenz für den Produktion von Büchern erhalten, die sich der "Völkerverständigung" widmeten, speziell für die ansonsten bedrohte Volksliteratur, wie Märchen, Sagen und Mythen. So erschienen ab 1954 in der sozialistischen DDR die Werke des Alt-Nazis Ludwig Kohl-Larsen, der in Tübingen, in der BRD an der Universität arbeitete. Unter der Rubrik "Neger Dichtung" mit dem Titel: "Das Elefantenspiel - Mythen, Riesen- und Stammessagen, Volkserzählungen der Tindiga" veröffentliche er 1956 seine Gespräche mit "Schungwitscha, Häuptling der Tindiga", obwohl es bei den Hadzabe keine Häuptlinge gibt. Er veröffentlichte das Buch wieder als "Professor" Dr. Ludwig Kohl-Larsen.

Buch von Ludwig Kohl-Larsen: "Elefantenspiel - Mythen und Sagen, Volkserzählungen der Tindiga" von 1956 in der Reihe "Neger Dichtung", im Erich-Röth Verlag, Eisenach (Thüringen) und Kassel erschienen.
Wer war Erich Röth (1895-1971)? Ein deutscher Verleger und Anhänger der Jugendbewegung. Mehr Antworten bei Wikipedia: Hier.

Bevor der Autor seine nacherzählten Ursprungssagen, Riesengeschichten, Stammessagen und Volkserzählungen wiedergibt, beschreibt er in einer siebenseitigen Einleitung den "Stamm der Tindiga". Dabei erwähnt er kurz und knapp das "Plättchenspiel", wie er es nennt, als Glücksspiel, ohne jedoch den tieferen Sinn zu erkennen. Er äußert sich nur verwundert über den langen Spielprozess.

Das Plättchenspiel als Glücksspiel

"Kein Tindiga kennt eine Sorge über den Tag hinaus. Ist eine Elenantilope erlegt oder gar ein Flußpferd, dann ruhen Bogen und Pfeile auf dem Grasbewurf ihrer Hütten, wenn erst die Frauen das Fleisch in das Lager geschleppt haben. Wir lernen, wenn wir unter ihnen leben, dann eine Seite ihres Daseins kennen, die in den Tages des Überflusses nichts von Not und Kampf weiß.

Die Feuer lodern bis weit in die Nacht hinein, Fleisch wird den ganzen Tag, roh oder in der Asche geröstet, gegessen. Nur noch eine Arbeit scheint es für alle zu geben: die Flammen des Lagerfeuers nicht erlöschen zu lassen und sich immer erneut den Magen zu füllen.

Auf dem Spielplatz der Männer herrscht dann reger Betrieb. Die Männer spielen; sie spielen das Plättchenspiel, das ich bei keinem anderen Stamme des Abflußlosen Gebietes sah. Kreisrunde, leicht gedellte Rindenstücke werden gegen ein ebensolches an einem Baustamme befestigtes geworfen - und wenn dann die ersteren auf die Erde fallen, werden nach ihrer Lage Gewinn oder Verlust gedeutet.

Als Einsätze liegen Pfeile, Perlen, Messer und Tabak auf dem Boden, und immer wieder sieht man nach den Würfen den glücklichen Spieler seine Gewinne einstreichen. Keiner von ihnen denkt an Zeit und Stunde, ihr Spiel kann in den Vormittagsstunden beginnen und mit kurzen Unterbrechungen den Tag ausfüllen. Die Pausen sind nur da, um zu essen. Man spielt bis in die Nacht hinein, der Mond steht voll und weich über dem Lager, und es tritt erst Ruhe ein, wenn er seinen Gang schon weit nach Westen vollendet hat." (s. S. 10-11)

 

Die Reisen von James Woodburn ab 1957

Der Anthropologe James Woodburn studierte bis 1952 am Christ's College in Cambridge Geschichte und lernte im folgenden Militärdienst als Dolmetscher Russisch, was ihm später helfen sollte, die Sprache der Hadza zu erlernen. Ab 1954 studierte er Anthropoliogie und Archäologie in Cambridge, wo er seine Dissertation über den Stamm der Hadza in Tanganyika (Tansania) am Eyasisee schrieb. Das Horniman Museum in London beauftragte ihn 1966 eine Sammlung an Artefakten der Hadza zusammenzutragen, 1970 kuratierte er für das Britische Museum die Ausstellung "Hunters an Gatherers - The material culture of the nomadic Hadza", wo auch ein Ausstellungskatalog erschien (s. Abbildung Titelbild).

Buch von James Woodburn: "Hunters and Gatherers - The material culture of the nomadic Hadza" von 1970, London, The British Museum

Als Anthropologe befasste sich Woodburn mit zahlreichen Aspekten des Lebens der Jäger und Sammler. Aus der Perspektive der Ludologie ist entscheidend und bemerkenswert, wie u.a. ein Glücks- und Gesellschaftsspiel, das Lukucuko-Spiel, eindeutig nicht nur geeignet ist, sich Spaß und Unterhaltung selbst zu organisieren oder sich die Zeit zu vertreiben, sondern, wie ein Spiel die Gesellschaftsstruktur, den zwischenmenschlichen Austausch organisiert und damit den Aufbau von einseitigen Machtkonstellationen in einer überschaubaren Gruppe von Menschen verhindert.

Lukucuko: the gambling game

"It is no coincidence that //'anako arrows, stone pipes and the valued articles obtained by trade or incorporating traded material are used as stakes in the gambling game of lukucuko. This is a game of chance - there is a little opportunity for using skill - and it serves to distribute these scare objects throughout Hadza Country. Hadza men spend a great deal of time gambling, more, indeed, than they spend obtaining their food. Bows, hik'o arrows, skin bags, skin sleeping mats and most other objects which are made from raw materials freely available throughout the country, are not acceptable as stakes in serious gambling." (s. S. 11-12)

"Hadze men spend more time gambling than obtaining their food. In all but the smallest dry-season camps the game goes on more or less continously all day." (Bildunterschrift S. 12)

"Laying poisoned arrows as gambling stakes. The most common an most valued stakes in the gambling game als poisoned arrows." (Bildunterschrift S. 13)


Übersetzung:
Es ist kein Zufall, dass //'anako-Pfeile, Steinpfeifen und die wertvollen Gegenstände, die durch Handel erworben wurden oder aus gehandeltem Material bestehen, als Einsätze im Glücksspiel lukucuko verwendet werden. Dies ist ein Glücksspiel - es gibt wenig Gelegenheit, Geschicklichkeit einzusetzen -  es dient dazu, diese knappen, seltenen Objekte im ganzen Hadza-Land zu verteilen. Die Hadza-Männer verbringen viel Zeit mit Glücksspielen, mehr sogar als mit der Beschaffung ihrer Nahrung. Bögen, Hik'o-Pfeile, Fellsäcke, Fellschlafmatten und die meisten anderen Gegenstände, die aus im ganzen Land frei verfügbaren Rohstoffen hergestellt werden, sind als Einsätze in ernsthaften Glücksspielen nicht akzeptabel.

Hadze-Männer verbringen mehr Zeit mit Glücksspielen als mit der Beschaffung von Lebensmitteln. In allen Lagern, außer in den kleinsten der Trockenzeit, wird den ganzen Tag über mehr oder weniger ununterbrochen gespielt (s. Foto).

Hadza-Männer spielen Lukucuko, werfen Spielscheiben auf die "Masterscheibe" am Baum. Die anschließende Lage der Spielscheiben, in der Funktion eines zweiseitigen Würfels, entscheidet über Gewinn oder Verlust des Spieleinsatzes.
Quelle: James Woodburn, 1970.

Das Hinlegen von Giftpfeilen als Spieleinsatz zum Spielauftakt. Die häufigsten und wertvollsten Einsätze im Glücksspiel sind Giftpfeile.

Einer der Spieleinsätze für das Glücksspiel "Lukucuko" sind die wertvollen Giftpfeile, die hier zum Spielauftakt abgelegt werden.
Quelle: James Woodburn, 1970.

Das Glücksspiel "Lukucuko" der Hadza mit seinen Spielmitteln und Spielregeln

Das Spiel "Lukucuko" der Hadza ist ein Glücksspiel, das James Woodburn intensiv beobachtete und wo er die verwendeten Spielmittel mit nach Großbritannien gebrachtn hat. Eine große Spielscheibe (Master Disc) und die kleinen Spielscheiben als Wurfscheiben, die als zweiseitige Würfel fungieren, sind die Spielmittel. In der Ausstellung von 1970 beschreibt er als Kurator die Spielmittel und die Regeln des von Kohl-Larsen erwähnten "Plättchenspiels".

"Curator's comments
This is the master disc in a game of chance. Hadza men spend a great deal of their time gambling for arrows, stone pipes, knives, trade goods, etc. To play, each contestant cuts himself a bark disk and a larger bark disk (lukucuko) which is almost always made of baobab bark, is cut to serve as a master disc. Very occatinally a player's disk may be made of some other material, for example of metal or rubber. Two, three or four people may play together. A loser in the previous contest or a newcomer to the game takes a disc from each player (including himself) and the master disc and, holding the discs in a pile all one way up with the master disc either on the top or the bottom of the pile, throws them against a tree. The various discs drop to the ground and roll about. The winner of the contest is the player whose disc lands the same way up (either bark side up or inside up) as the master disc provided that the other players' discs are all the other way up. If no player's disc or more than one player's disc lands the same way up as the master disc, all the discs are thrown again until a win is obtained. In general about three throws are needed to secure a win. The game is a game of chance in which there is a little opportunity of influencing the result in one's own favour."
(p. 33-34)

Link "The British Museum": gaming-piece (Af1970,12.44)

Quelle: British Museum, gaming-piece, Hadza, Tanzania, baobab bark, Master Disc, Height: 12.50 cm, Width: 8.5 cm, Depth: 4 cm. From James Woodburn, 1970: "Master disc", Sammlungsstück Nr. 44


Übersetzung:
Kommentare des Kurators
Dies ist die Meisterscheibe in einem Glücksspiel. Die Hadza-Männer verbringen einen großen Teil ihrer Zeit mit Glücksspielen um Pfeile, Steinpfeifen, Messer, Handelswaren usw. Um zu spielen, schneidet sich jeder Teilnehmer eine Rindenscheibe und eine größere Rindenscheibe (lukucuko), die fast immer aus Baobab-Rinde besteht, wird als Hauptscheibe (Master Disc, s. Abbildung) zugeschnitten. In seltenen Fällen kann die Scheibe eines Spielers auch aus einem anderen Material bestehen, zum Beispiel aus Metall oder Gummi. Zwei, drei oder vier Personen können zusammen spielen. Der Verlierer des vorangegangenen Wettbewerbs oder ein Neuling nimmt von jedem Spieler (auch von sich selbst) eine Scheibe und die Meisterscheibe und wirft sie gegen einen Baum, indem er die Scheiben zu einem Stapel aufstellt, wobei die Meisterscheibe entweder oben oder unten liegt. Die verschiedenen Scheiben fallen auf den Boden und rollen herum. Gewonnen hat der Spieler, dessen Scheibe mit der gleichen Seite nach oben (entweder mit der Rinde nach oben oder mit der Innenseite nach oben) wie die Meisterscheibe landet, vorausgesetzt, die Scheiben der anderen Spieler liegen alle in der anderen Richtung. Wenn keine Scheibe eines Spielers oder mehr als eine Scheibe eines Spielers in der gleichen Richtung wie die Meisterscheibe landet, werden alle Scheiben erneut geworfen, bis ein Gewinn erzielt wird. Im Allgemeinen sind etwa drei Würfe nötig, um einen Gewinn zu erzielen. Das Spiel ist ein Glücksspiel, bei dem es eine geringe Chance gibt, das Ergebnis zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen. (s. S. 33-34)


"The line on Specimen 46 and the cup-shaped marks on Specimen 47 are used only for decoration and to help to differentiate outside from inside. Specimens 44 and 45, both of baobob bark, were originally round and flat but since they were collected they have become distrorted as they have dried." (p. 34-35)

Übersetzung:
Die Linie auf Sammlungsstück 46 und die napfförmigen Markierungen auf Sammlungsstück 47 dienen nur zur Dekoration und zur Unterscheidung zwischen außen und innen. Die Sammlungsstücke 44 (s.o.) und 45, beide aus Baobob-Rinde, waren ursprünglich rund und flach, aber seit ihrer Aufbewahrung haben sie sich beim Trocknen verzogen. (s. S. 34-35)

Quelle: British Museum, gaming-piece, Hadza, Tanzania, baobab bark, Würfel, "wood disc", Height: 10 cm, Width: 7.50 cm, Depth: 2.50 cm.
Link zum Sammlungsstück Af1970, 12.45: Hier.

Quelle: British Museum, gaming-piece, Hadza, Tanzania, wood, Würfel, "wood disc", Height: 9 cm, Width: 6 cm, Depth: 1 cm.
Link zum Sammlungsstück Af1970, 12.46: Hier.

Quelle: British Museum, gaming-piece, Hadza, Tanzania, wood, Würfel, Height: 7.50 cm, Width: 5.50 cm, Depth: 0.70 cm.
Link zum Sammlungsstück Af1970, 12.47: Hier.

Quelle: British Museum, gaming-piece, Hadza, Tanzania, baobab bark, Würfel, Height: 9.00 cm, Width: 11,00 cm, Depth: 1.50 cm.
Link zum Sammlungsstück Af1970, 12.48: Hier.

Quelle: Horniman Museum, gambling disc, Hadza people of Tanzania. This disc is a small, dark oval of bark. Rindenscheibe zum Werfen.
Link zum Sammlungsstück von James Woodburn, 11.7.66/39: Hier.

Interview mit James Woodburn vom 2. Juni 2005 bei Youtube: Part 1 (1:01:49) und Part 2 (50:13).

ARD-Mediathek, SWR, Dokumentationsfilm von 2021: "Hadzabe heißt: Wir Menschen - Die letzten Jäger und Sammler in Tansania" (29:12 Min., abrufbar leider hier nur bis zum 14.08.2026): Hier.

ARD-Mediathek, SWR, Dokumentationsfilm von 2021, jedoch ohne Bezug zum Spiel Lukucuko, weil in dieser Gruppe die Verteilung des Fleisches aus der Jagd nach festen Regeln erfolgt.

Ähnlich wie die Hadza(be) leben die Ju/'Hoansi San im Osten Namibias an der Grenze zu Botswana als Jäger und Sammler, die ebenso nie auf die Idee kamen, mehr Nahrung anzuhäufen, als sie an einem Tag essen konnten. Die Natur ist immer so reichhaltig, dass eine Vorratssicherung gar nicht notwendig erscheint. Da haben die "Jäger und Sammler" unermüdlich Zeit zum "Zocken", weil sie sich keine Gedanken müssen, woher sie ihre nächte Mahzeit herbekommen müssten.

Inzwischen sind diese "Buschmenschen" (inzwischen verpönte Bezeichnung) für Touristen eine Attraktion und die Ju/'Hoansi San haben sich darauf eingestellt im "Living Museum" für diese Besucher ein passendes Programm gegen Geld zu gestalten. Ein Living Museum soll die Menschen befähigen, in ihrer Tradition weiterhin leben zu können und gleichzeitig vor bedrohlichen Begehrlichkeiten anderer Menschen geschützt zu sein. Diese neuartige Koexistenz bildet nicht mehr das noch während der Kolonialzeit isolierte Leben der Ju/'Hoansi San ab, aber für einen privilegierten weißen Menschen aus Europa stellt ein Tag mit den "Buschmenschen" noch immer ein Abenteuer da.

Ein typischer Reisebericht mit aktuellen Fotos aus Namibia von einem Tagesbesuch bei den Ju/'Hoansi San stammt von Patrick Ludolph aus 2018: Hier.

 

Die Bedeutung des Glücks- und Gesellschaftsspiels

Spiele sind für Außenstehende oder für Zuschauer nicht komplett zu erfassen, wenn sie nicht selbst das Spiel in seinem Geschehen beherrschen oder verstehen, auch wenn es noch so einfach erscheint. So ist es auch den ersten europäischen Forschern ergangen, als sie die Spiele der Hadzabe oder Ju/'Hoansi San erlebten. Spielspaß und Zeitaufwand schienen dem Betrachter von außen nicht in einem angemessenen Verhältnis zu stehen, in Bezug zu dem eigentlich notwendigen Überlebenskampf mit der Mühe und Anstrengung, um zur nächsten Mahlzeit zu gelangen.

Die ersten europäischen Beobachter der afrikanischen Jäger und Sammler stellten eine reine Arbeitszeit der "Buschmenschen" von wöchentlich nur 15 bis 17 Stunden fest (vgl. Suzman, James: 2021, S. 106). Der Energiehaushalt des Homo sapiens beansprucht pro Tag nur eine Zufuhr von zwei bis drei Prozent seines eigenen Körpergewichts. So hat der Mensch Zeit für andere schöne Dinge, z.B. Spielen. Wir Menschen sind Meister darin, eine aufkommende Langeweile in Freude stiftende Tätigkeiten umzuwandeln, denn die Möglichkeit, so wie Katzen, 18 Stunden am Tag schlafen zu können, besitzen wir nicht. Unser leistungsfähiges Gehirn ist aktiv und kreativ, sucht nach Betätigung. So ist das Spiel eine Symbiose aus Luxus, überschüssiger Energie, Muße und Anstrengung, wenn wir eine spielerische Herausforderung annehmen.

Jäger und Sammler leben in "Kleinstgesellschaften", sie haben es nicht nötig, einen "Häuptling" zu benennen oder sich einer Herrschaft oder Hierarchie zu unterstellen. Es gibt keine Schrift, damit keine ausformulierten Gesetze, keine staatlichen Institutionen und somit auch keine Steuern. Die an den Alten erzählten Stammesgeschichten geben den Jungen Orientierung für das Zusammenleben. Die in unseren Kulturkreisen formulierten Regeln einer erfundene Ordnung rund ums "Eigentum" für materielle Dinge spielte keine Rolle, es wird alles fair geteilt. Stehlen muss nicht sein, das Fragen und Bitten um etwas, reicht aus, um etwas zu bekommen.

Innerhalb einer solchen homogenen Gruppe würde sich derjenige hervortun können und als etwas Besseres fühlen, wenn er als Jäger mit der von ihm erlegten Beute darüber entscheiden dürfte, wer ein Stückchen Fleisch in der Gruppe abbekommt. Fleisch als Nahrung verteilen zu können, würde zu einer Machtposition führen. Hier bekommt das Spiel seine regulierende Rolle. Mit der Idee, dass dem Gruppenmitglied das tote Tier gehört, dem der Pfeil zuzuordnen ist, mit dem das Tier erlegt wurde, werden auch die Menschen zu Entscheidern über die Aufteilung der Nahrung, die nicht zum Jagen gingen. Alte und Kranke erhalten die gleichen Rechte, wie pfiffige, gesunde und junge Jäger.

Bei den Hazabe werden die Pfeile für die Jagd vorbereitet

Damit selbst die Menschen einer Gruppe über die Fleischverteilung mitbestimmen können, die keine Jagdpfeile produzieren können, sie ebenso die Chance erhalten, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, findet das Glücksspiel statt. Als Spieleinsatz können die Pfeile gelten, die bei der nächsten Jagd darüber entscheiden, wer das Fleisch aufteilt.

Die Jäger der Hadzabe bringen ihre Jagdbeute zur Aufteilung zurück ins Camp
Quelle: ARD-Doku, SWR, Screenshot


Heutzutage verwenden wir den Begriff der Machtspiele zumeist, wenn es darum geht, Macht über andere Menschen, über Kapital oder andere begehrte materielle Güter zu erlangen. Das Macht- und Glücksspiel "Lukucuko" lässt erst gar keine zentrale, einzelne Macht aufkommen, es verteilt die Macht im Zufall des Spiels. Gesellschaftsspiele können Machtverhältnisse auf den Kopf stellen, einen Wettkampf initiieren oder zur Kooperation einladen.

Im Erfahrungsraum des Spiels entsteht ein Mitein- oder Gegeneinander. Wir erleben dort, nach welchen Regeln wir leben wollen, träumen uns Gesellschaft anders, wie beim Skatspiel von 1813, wo nicht mehr ein König sondern die Bauern den Trumpf angeben. Regelspiele können mit ihrer erfundenen Ordnung und den regulativen Ideen darin sehr abstrakt sein, aber sie können auch sehr konkret sein und die Realität im Hier und Jetzt gestalten, so wie bei den Jägern und Sammlern der Ju/'Hoansi San oder der Hadzabe. Spiel als Methode, das Leben optimistisch und variabel zu gestalten, sollten wir Menschen heute wohl mal wieder ernster nehmen.

Spiel als Methode, das Leben optimistisch und variabel gestalten zu können. Spielfreude und Lebensfeude liegen eng beieinander. Im Spiel feiern wir Menschen das Leben selbst.

 

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Literatur und Quellenhinweise

Kohl-Larsen, Ludwig: "Das Elefantenspiel - Mythen und Sagen, Volkserzählungen der Tindiga", Erich-Röth-Verlag, Eisenach und Kassel 1956.

Suzman, James: "Sie nannten es Arbeit - Eine andere Geschichte der Menschheit", C. H. Beck, München 2021.

Woodburn, James: "Hunters and Gatherers - The material culture of the nomadic Hadza", The British Museum, London 1970.

Wikipedia: Jäger und Sammler

Wikipedia: Hadza (Hadzabe, Hadzapi, Tindiga, Kindiga), Tansania

Wikipedia: San (Ju/'Hoansi), Namibia

The Britisch Museum: Collection of Hadza

Horniman Museum: Collection of Hadza