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Gerhard von Kujawa (1901-1942): "Ursprung und Sinn des Spiels" (Deutsches Reich, 1940)

Das nationalsozialistische Deutschland begann 1939 einen Angriffskrieg, den II. Weltkrieg. In dem Kriegsjahr 1940 veröffentlichte Gerhard von Kujawa als Psychologe (auch Dr. ing. chem., geboren in Berlin-Lichtenberg) in Leipzig im E.A. Seemann Verlag seine Schrift "Ursprung und Sinn des Spiels" auf grobkörnigem, sehr holzigem, gelblichem Papier, welches schon damit aus rein materieller Sicht den Mangel der grausamen Zeit verdeutlicht.

Carl Gustav Jung (1875-1961)

Carl Gustav Jung (1875-1961)

Gerhard Theodor Georg von Kujawa (07.09.1901-16.10.1942) bezeichnet sich in seinem "schmalen Heftchen" (s. S. 4) "Ursprung und Sinn des Spiels - Eine kleine Flugschrift versehen mit Randbemerkungen eines Schildbürgers " damit als "Schildbürger". In der damaligen nationalsozialistischen Realität des Kriegsjahres 1940 als Psychologe leben zu müssen, erforderte geistige Fluchtpunkte, auch wenn es nur der imaginäre Ort "Schilda" war, wo es nach der Romanvorlage üblich war, anderen Menschen Schildbürgerstreiche zu spielen. Die einzelnen Geschichten der Schildbürger wurden als Schwänke und humoristische Erzählungen gesammelt, zusammengetragen und ähnlich, wie die unglaublichen Geschichten von Till Eulenspiegel (1510), in einer Gesamtausgabe 1598 publiziert.

Historischer Hintergrund und aktueller Bezug

In Nazi-Deutschland ein Buch zu produzieren, welches nicht ideologisch mit der vorherrschenden Kriegsrethorik konform ging oder auf diese einzahlte, konnte nur über eine Metapher, eben diese der Schildbürger, der Narren aus dem Mittelalter, durch Gerhard von Kujawa realisiert werden. In hoher Anerkennung an dieses Vorhaben und im Abstand von 80 Jahren, heute mit der rückblickenden historischen Brille betrachtet, wo aktuell Faschisten und Nationalisten in Landesparlamenten und in den Deutschen Bundestag mit einem beängstigten hohen Prozentsatz über das parteipolitischen Deckmäntechen eine "Alternative" zu sein, wieder gewählt wurden, ist es sehr aufschlussreich sich dieses schmale Heftchen genauer anzusehen, zwischen den Zeilen zu lesen und zu interpretieren.

Gerhard von Kujawa (1940): Ursprung und Sinn des Spiels

Mit seinen ersten Worten "Zum Geleit" wird deutlich, was dieses Buch mit seinem aus dem Materialmangel des Krieges heraus auf nur knapp 120 Seiten verfassten Text sein wollte, eine Brennessel sowie gleichzeitig ein Teil des Salzes der Erde: "Bekanntlich fingen die Schildbürger eines Tages an, Salz zu säen und ernteteten davon - Brennessel; von ähnlichen Erfahrungen weiß heutigen Tages noch ein jeder Schildbürger zu berichten und auch mir ist derlei nicht erspart geblieben, was ich munter vorweg bekenne; was aber das Salz anbetrifft, so wird dadurch gleichwohl die alte Stelle vom Salz der Erde nicht entkräftet. ... Eine intellektuelle Steuerung des Volksganzen ist notwendig; aber deswegen soll man nicht in den Fehler verfallen, das Steuermannsexamen als Allgemeingut zu fordern." (s. S. 6)

Spielerische Methapern gegen den Nationalsozialismus

Mit den verwendeten Methaphern, hat es Gerhard von Kujawa geschafft, an der damaligen nationalsozialistischen Zensur vorbei, das ihm sehr wichtig erscheinende Thema des Spiels zu platzieren. Vielleicht hat schon sein Name, der vom westpreußischen Landadel abstammte, der nationalsozialistischen Kontrollbehörde (Reichsschrifttumskammer, RSK) in die Augen gestrahlt? Eindeutig formuliert der Autor seine Intention auf Seite 5, seine Schrift eigentlich nur, wie einen offenen Brief, an eine einzige Person zu richten: Carl Gustav Jung (1875-1961). Das Buch sollte also eigentlich gar nicht für das allgemeine Volk sein, sondern wohl eher ein Text für Wissenschaftler, Psychologen?

In seinem Geleit spielt der Schildbürger von Kujawa zum einen den anscheinend dummen Menschen, der Salz säen will, damit Brennessel wachsen, wohl wissend, dass diese Pflanze eine sehr nützliche Funktion als Faserpflanze hat und sie sich mit Hilfe ihres eigenen Giftes gegen äußere Feinde wehren kann. Zum andere ist das Salz der Erde die aus der Bibel stammende Metapher im Matthäus-Evangelium der Bergpredigt (Mt. 5,13). Die Jünger Jesu werden mit dem damals sehr wertvollen und seltenen aber wichtigen Salz in Beziehung gesetzt. Sie bringen die für eine Gesellschaft notwendige Würze in die Masse rein, damit die Gemeinschaft allen schmecken kann.

Nun betrachtet sich der Psychologe Gerhard von Kujawa nicht als Jünger Jesu, aber er nutzt dieses Bild, um mit seinen "Randbemerkungen" salzige Themen in ein nationalsozialistisches Umfeld einstreuen zu können.

"Die hier niedergeschriebenen "Randbemerkungen" geben sich aus diesem Grunde als solche; auch weil sie bei der Kürze des zur Verfügung stehenden Platzes (Anm.: Papierknappheit im Krieg) nichts anderes sein wollen, noch können; wenn gleichwohl der Versuch unternommen wurde, der Betrachtung des Spieles noch einiges Neue oder in der bisherigen Literatur doch nicht mit der vielleicht erwünschten Deutlichkeit Gesagte abzugewinnen, so geschieht dies noch aus einem besonderen Grunde. Ich sehe in der wissenschaftlichen Bearbeitung des Spieles, und zwar sowohl nach der systematischen Seite hin, wie vor allem aber auf den "Sinn" bezogen, eine wesentliche Aufgabe unserer nächsten Zukunft. Das Spiel ist der "uneigentliche" Ausdruck eines Grundbedürfnisses im Menschen, dessen andere Ausprägungen die künstlerische Betätigung im allgemeinsten Sinne oder aber die religiöse Betätigung darstellen. Eine solche Auffassung nicht "nachzuweisen", wohl aber ihre Geltung neben anderen Auffassungen nahezulegen, ist die Absicht der folgenden Seiten." (s. S. 7)

Blendwerk?

"Das klassische Altertum unterschied drei Arten der praktischen Theologie: die mythische (historische) Seite;  die philosophische und die politische; die letzte war die nach außen hin maßgebende, deren Formen die principes civitatis festlegten. Es scheint mir mancherlei dafür vorzuliegen, daß eine derartige Dreiteilung des "Heiligen" wieder einmal bevorstehen könnte. (Anmerkung 4: Ich verweise u.a. auf (Albrecht) Blau, Geistige Kriegsführung; Potsdam 1937. - Ferner Pintschovius, Die Dämonie des militärischen Führers; Berlin 1940.)" (s. S. 7-8)

Kujawa weist hier auf einen überzeugten Nationalsozialisten als Autor hin. Dr. Albrecht Blau hatte 1935 "nur für den Dienstgebrauch" das Buch "Propaganda als Waffe" in Berlin publiziert und dann das erwähnte Buch "Geistige Kriegsführung" 1937. Er gehörte zur Propagandakompanie (PK) und leitete die Amtsgruppe für Wehrmachtpropaganda IV als Oberstleutnant, zuständig für die Auslandspropaganda. Hat Kujawa vielleicht diesen Namen in seinen Text bewusst mit eingestreut, um die NS-Zensur-Behörde damit zu blenden, weil er wusste, dass sie diesen Namen kennen und positiv bewerten würden? Wir würden es so gerne hoffen. Dr. Albrecht Blau setzte nach Kriegsende seinem Leben am 30. August 1945 mittels Vergiftung in amerikanischer Gefangenschaft im österreichischen Bad Gastein ein Ende, wohin er geflohen war.

Geistige Väter spieltheoretischer Ideen

"Von den Lebenden seien bedankt: zuerst zwei Holländer, denen als Wegbreiter des Spielthemas bedeutende Arbeit zufiel: Buytendijk und Huizinga. Dann Ziegler; Burkamp und Guardini, die Vereinzeltes, aber dennoch Wesentliches hinzufügten. Endlich Zen Dun Sung; Swami Inanananda sowie Lin Yu Tang als Führer durch den Osten. Und zuletzt Jakob Baron Uexküll, dessen "Niegeschauten Welten" die nachfolgenden Seiten einen "uneigentlichen" Beitrag zuspiegeln - aus der Umwelt einer Schildbürgers.
Wenn sich gleichwohl dieses Heftchen an einen Einzelnen richtet, so hat dies den Grund in einer besonderen Verbundenheit; gleichzeitig hoffe ich, daß die nachfolgenden Darlegungen eine gewisse Ergänzung zu
Jungs letzer Veröffentlichung, den "Terry Lectures 1937" bilden möchten.
23. Juni 1940. Gerhard v. Kujawa"
(s. S. 8-9)

Wenn Kujawa 1933 Buytendijk und 1938 Huizinga als niederländische Autoren wahrgenommen und sie verstanden hat, er sie an dieser Stelle würdigt, dann ist dies wieder ein Beleg dafür, dass er kein ausgeprägter Nazi sein konnte.

Den Begriff "Umwelt" definierte der deutsche Biologe und Philosoph Jakob Johann von Uexküll (1864-1944) als bedeutender Zoologe in seinem Buch "Umwelt und Innenwelt der Tiere" von 1909. Kujawa bezieht sich auf Uexkülls "Niegeschaute Welten" von 1936, nutzt dabei wieder seine Metapher des Schildbürgers und bringt diese in Beziehung zum Umwelt-Begriff Uexkülls als "uneigentlichen" Beitrag. Ist dies als kritische Anspielung auf dessen nationalsozialistische Nähe zu sehen? Denn Uexküll unterzeichnete am 11.11.1933 das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler.

Auch der schweizer Psychologe Carl Gustav Jung, dem Kujawa das Buch widmete, war der NS-Zensur kein Dorn im Auge, weil er sich äußerst positiv zur "nationalsozialistischen Bewegung" in Deutschland in einem Beitrag 1934 geäußert hatte. Wie war Kujawas Einstellung selbst den Nazis gegenüber? Auf der Liste der Hilter bekennenden verbeamteten Professoren steht er jedenfalls nicht drauf. Leider gibt es zu ihm kaum im Internet recherchierbare Daten. Selbst Geburts- oder Sterbedaten fehlen. Sein Büchlein ist nur von wenigen anderen Autoren erwähnt worden, weil es eben mit dem Erscheinungsjahr 1940 innerhalb Nazi-Deutschlands auch keinen sehr humanistischen oder offenen Blick vermuten lässt. Aber mit seinem Hinweis auf die "Terry Lectures" die C.G. Jung an der Yale University in den USA 1937 zum Thema "Psychologie und Religion" gehalten hatte, möchte er mit seinem Heft eine Ergänzung darstellen, das nach dem Ursprung und Sinn des Spiels fragt. Da vermutet man eher den Blick über den Tellerrand, als NS-Propaganda.

Verlag E.A. Seemann, Leipzig

1858 übernahm Ernst Arthur Seemann (1829-1904) die buchhändlerische Leitung des Verlages Pierer in Altenburg für das Konversationslexikon und gründete im gleichen Jahr in Essen seinen eigenen Verlag. 1861 zog er in die damalige Verlegerstadt Leipzig um. Er konzentrierte sich auf Kunstliteratur und Gemäldereproduktion und wurde in diesem Themenbereich der führende deutsche Verlag. In dritter Generation führte Elert A. Seemann den Verlag weiter, nachdem der den langjährigen und das Verlagsprogramm bestimmenden jüdischen Mit-Geschäftsführer Gustav Kirstein (1870-1934) aus der Geschäftsführung herausgedrängt hatte.

Elert A. Seemann (1892-1989) war Nationalsozialist und sehr früh Mitglied der NSDAP. Das über Jahrzehnte aufgebaute kunstwissenschaftliche Programm des Verlages wurde aufgegeben und wich für Publikationen, die als eindeutig nationalsozialistische Propaganda bezeichnet werden können. (s. Paul Schultze-Naumburg (1869-1949) als Architekt mit Hilters Auftrag die Oper in Nürnberg "umzubauen", NSDAP-Reichstagsabgeordneter und Autor der Bücher "Kunst und Rasse" 1928 oder "Kunst aus Blut und Boden" 1934). Ein schwerer Bombenabriff auf Leipzig 1943 zerstörte das Verlagshaus. Das 1940 in diesem Verlag auf billigstem Kriegspapier erschienene Buch von Gerhard von Kujawa wies jedoch keine eindeutige Nazi-Symbolik auf, nur die Typographie (Fraktur) auf der Titelseite wurde später für eine zweite Auflage ausgetauscht, so eignete es sich auch für eine Neuerscheinung im Jahre 1949, als Elert A. Seemann seinen Verlag in Köln erneut betrieb. Dieses Mal wieder mit Kunstlitreatur.

Zum Inhalt: "Halbes Spiel ist doppelte Wahrheit"

Der Autor Gerhard von Kujawa beschreibt die ihn motivierende Fragestellung nach dem Spiel, deren Ursprung sowie deren Bedeutung darüber hinaus, wie der Titel des Buches es zusammenfasst "Ursprung und Sinn des Spiels":

"Was hat es mit dem Spiel auf sich, mit dem Spielen, aber auch mit den einzelnen Spielen selbst? Was triebt Kinder wie Alte - und in ähnlicher Weise schon die Tiere zu einem solchen Tun? In unserer nach Zwecken und Zielen säuberlich und fast restlos aufgeteilten Welt wirkt die Erscheinung des Spieles - jedenfalls auf weiten Bezirken innerhalb der menschlichen Sphäre - nahezu beziehungslos und gerät dabei dann leicht in die Lage, nebensächlich, wo nicht gar sinnlos am Rande der "wirklichen" Welt zu stehen.

Aber dennoch hat die Frage nach der Bedeutung des Spieles in der letzten Zeit mancherlei Köpfe beschäftigt, und die Anteilnahme an diesem Thema, die Art und die Gründlichkeit, mit der man dem Problem auf den Leib gerückt ist - ja sogar schon der einfache Umstand, in der Frage nach dem Spiel ein Problem zu sehen, machen es augenfällig, daß auf irgendeine Weise es hierbei um etwas geht, - daß etwas "dabei auf dem Spiele steht", auch wenn nicht sogleich ersichtlich wird, was dieses Etwas nun "eigentlich" sei. -" (s. S. 10-11).

Geht man zu einer Partie Skat, wie man zu einem guten Trunk am Abend mit Freunden geht, um sich zu entspannen, zu erholen und sich von den Anstrengungen des Alltags abzulenken? Von was will man sich ablenken? Kujawa führt fort: "Allein die Schildbürger sterben nun einmal nicht aus, so wenig wie die sieben Schwaben oder - um auch Jüngere zu nennen - die Pickwicker; und selbst in der neusten Zeit noch finden sich Nachfolger mancherlei Art." (Fußnote zu Jean Pauls "Unsichtbare Loge" und den Anmerkungen von Kurt Berger, 1939, S. 320) (s. S. 11). Auf welche Aspekte spielt Kujawa mit seinen Vergleichen zu den Schildbürgern, den sieben Schwaben oder den Pickwickern an? Wo steckt der Bezug zum Spiel in diesen alten Geschichten, die als Schwank ("lustiger Einfall") und damit volksnahe Erzählung daherkommen?

Schildbürger

Die Schildbürgerstreiche stammen erzählerisch aus dem 16. Jahrhundert (s. Lalebuch von 1597). In dem fiktiven Ort Schilda lebten wohl bekannt äußerst kluge Bürger. Aus diesem Grund waren sie sehr begehrte Ratgeber der Könige und Kaiser in aller Welt. Jedoch wurde auf diese Art der Ort langsam und stetig entvölkert. Da begannen die Schildbürger, ihre Klugheit durch Narrheit zu ersetzen und ihre "Schildbürgerstreiche" legen Zeugnis davon ab, dass es in diesem Orte nicht mehr "normal" zugeht. Eine Geschichte zeigt auf, wie die Schildbürger bei einem angekündigten, kaiserlichen Besuch ihm auf Steckenpferdchen entgegenritten, so dass ihnen eine absolute Narrenfreiheit durch den Kaiser eingeräumt wurde. Die Erzählungen um die Schildbürgerstreiche fanden in der späteren deutschen Literatur zahlreiche Erwähnungen.

Auf Steckenpferdchen reitender Schildbürger

Gerhard von Kujawa formuliert es im Kriegsjahr 1940 wohl als seinen Wunsch, in einer nationalsozialistisch geprägten Diktatur, dass die Schildbürger auch heute nicht "sterben" mögen, die Menschen, die sich mit ihren Narreteien ihre Freiheit spielerisch erhalten.

 

Die sieben Schwaben

Die sieben Schwaben werden in einem Schwank aus dem 16. Jahrhundert sehr töplehaft und tollpatschig dargestellt. Mit einem langen Spieß ziehen sie gegen einen angeblichen Drachen in die Schlacht, der sich später als Hase herausstellt. Besonders lächerlich dabei sind die Dialoge zwischen den Männern. In den deutschen Sprachgebrauch eingegangen ist die Aussage: "Frisch gewagt ist halb gewonnen." Eigentlich tragisch endet die Geschichte, weil alle sieben Schwaben durch ein Mißverständnis, ausgelöst durch das Gequake eines Frosches, im Fluß Mosel ertrinken.

Die sieben Schwaben mit ihrem langen Speer in "Schlachtordnung" gegen den vermeintlichen Drachen, in zahlreichen künstlerischen Motiven dargestellt

Eigentlich ist diese mit dem Tod der ungeschickten sieben Schwaben erzählte Geschichte als Spott gegen die Schwaben aufzufassen. Aber die zahlreichen literatischen Bearbeitungen und Erwähnungen sorgen über die Jahrhunderte dafür, dass die Tölpelhaftigkeit der Männer positiv umgedeutet wird. Aus den sieben Trotteln werden Identifikationsfiguren. Donald Duck ist auch beliebter als Dagobert, Menschen halten gerne zu den Schwächeren und entdecken sich selbst in den beschriebenen Unfähigkeiten. Irgendwie können wir Menschen überall Narren sein.

Die Wahrheit des Märchens

"Es gehört zu den Wesenszeichen der Zeit, daß die Bedeutung und Geltung des Vergangenen oft und gern unterschätzt wird gegenüber den Dingen und Fortschritten der Gegenwart; ja im gewissen Sinne lebt vieles überhaupt nur vom Vergessen des Gestrigen. Daß solchem Erinnerungsschwund manches Wertvolle zum Opfer fällt und gelegentlich später unter neuen Mühen wieder erworben werden muß, davon hat beispielsweise die Forschung des Märchens in den letzten Jahrzehnten mancherlei zu berichten. Darin liegt eine Parallele zur Erscheinung des Spiels: ohne die Kinder wäre uns vielleicht bei beidem das Beste längst verloren gegangen; aber die Kinder haben ahnend-wissend den tieferen, eigentlichen Gehalt darin stets verspürt." (s. S. 11-12).

So wie das Urphänomen Spiel tritt auch das Märchen mit seinen wundersamen Begebenheiten und Geschichten in allen menschlichen Kulturen auf. Begrifflich unterscheidet sich das Märchen als frei erfundene Geschichte von den Sagen, Mythen und Legenden, die zumindest eine räumliche und personell denkbare Zuordnung liefern, auch wenn die Mythen eine sagenhafte, erfundene Geschichte ohne nachprüfbare Fakten sind. Kujawa vermisst die "Geltung des Vergangenen", weil er den frei, spielerisch erfundenen Märchen einen "ahnend-wissenden" Wahrheitsgehalt zuspricht, den Kinder wohl leicht entdecken, wie sie auch den Sinn des Spielens nicht in Frage stellen würden.

Märchen, Gedankspiele um Zauberhaftes, Unnatürliches und den Konflikt zwischen Gut und Böse

 

Tradition, Vergangenes, Traumwelten, Märchenhschloss Neuschwanstein in Bayern

 

Das Spiel als Urphänomen und Naturtrieb

"Vielleicht aber ist dennoch hier und dort so manches im Laufe der Zeiten abhanden gekommen, da der verbindliche Zug einer echten Tradition in Sitte und Brauch seit mehreren Generationen im Schwinden ist.
Was sich dennoch bis heute unverändert oder auch gewandelt erhalten hat, wird dann als Vereinzeltes oft nicht mehr verstanden und damit fragwürdig oder problematisch. So ist es dem Ding oder dem Tun, das sich hinter dem Wort "Spiel" verbirgt, ebenfalls ergangen; beim Nachsinnen darüber bieten sich wohl viele Fragen, aber wenig genug greifbare oder gesicherte Antworten." (s. S. 12)

Rückblickend könnten diese schwammigen Aussagen erneut als Kritik am Nationalsozalismus interpretiert werden. Da wird etwas nicht mehr "verstanden" und wird wohl unberechtigt "fragwürdig und problematisch"? Diktaturen mögen kein freies Gedankenspiel.

"Welche Aufgabe kommt ihm [dem Spiel] zu im Plane der Natur? Was unterscheidet Mensch und Tier in ihrem Spiel - oder handelt es sich vielleicht in letzter Linie gar nicht um Wesensunterschiede, sondern um Gleiches? Sind die Spielformen, wie sie sich in mancherlei Art bei Tieren beobachten lassen, das Einfache und Ursprüngliche, an dem wir nur komplizierte Veränderungen vornehmen, aber das wir in seinem Kern nicht umgestalten können? Oder lassen sich umgekehrt vielleicht aus einer Sichtung des Spielgebietes Dinge bestimmen und erhellen, die uns an ganz anderem Orte zu schaffen machen? Wenn das Spiel bestimmten, nun einmal nicht auszumerzenden Bedürfnissen in unserer Welt nachkommt, so ist es wert genug, sich darüber einige Klarheit zu verschaffen, denn ungeregelte oder unbeachtete Bedürfnisse können zu jeder Zeit in unerwünschter Form zur Geltung kommen; alles Vernachlässigte wird oft genug zu Störungen führen. -" (s. S. 13)

Das klingt fast wie eine Drohung an die Diktatur. Das Spiel werdet ihr nie verbieten können und wenn ihr Nazis es versuchen solltet, wird das Vernachlässigte zu Störungen führen.

Spiel, Zeit, Arbeit und Religion

"Man hat oft genug - teils in anerkennendem Sinne, aber auch in kritischer Betonung - gesagt, daß die Religion des modernen Menschen die Arbeit geworden sei, wobei das Sprichwort mit in der Erinnerung anklingen mag: "Immer Arbeit, nie ein Spiel / wird dem Knaben Hans zuviel." Zwar behauptet schon Epicharmos [um 540 v.Chr. - um 460 v. Chr.] : Um den Preis der Mühen verkaufen uns die Götter jedes Gut - doch ist das begehrteste Gut aller Zeiten: die Zeit - bei uns seit langem stets wertvoller geworden und war immer nur in ihrer eigenen Währung käuflich. Diesen edelsten Besitz so gut wie möglich anzuwenden ist daher das Bestreben und oberste Pflicht eines Jeden; ob dabei die Religion einen unbedingten Anteil erhalten muß und in welcher Form, das ist bekanntlich nicht erst in unseren Tagen eine offene Frage. Daß aber Sport und Spiel zu ihrem wesentlichen Recht kommen müssen, ist nie bezweifelt worden." (s. S. 13-14)

Und im nächsten Satz traut sich Gerhard von Kujawa sogar indirekt ("neueste Untersuchungen"), aber eindeutig auf den Niederländer und Nazi-Gegner Johan Huizinga (1872-1945)  hinzuweisen und sein Buch "Homo ludens" von 1938 als eigentlichen Anlass und Impuls für sein Buch zu bescheiben :

"Eine der neuesten Untersuchungen zu unserem Thema sieht sogar das Spiel als den eigentlichen Kern alles kulturellen Strebens und Werdens an, wovon weiterhin noch ausführlich zu sprechen sein wird." (s. S. 14)

Sogleich im Folgesatz beginnt seine Interpretation von 1940 und der von ihm unterstrichene Bezug zu Kultur, Religion und Spiel im Umfeld eines nationalsozialischen Verlages:

"Es liegen also wichtige Gründe vor, auch im Spiele zu fragen: was man denn "eigentlich" tue; um so mehr, als die nähere Betrachtung wohl in jedem Falle zeigt, daß der Sinngehalt vieler, ja wahrscheinlich wohl sogar aller Spiele auf uralte Glaubensvorstellungen zurückgeht, womit ein förmlicher Prioritätsstreit zwischen Kultur, Religion und Spiel aufgedeckt wird, der für die Rangordnung und Wertfragen der verschiedensten Art wichtig genug erscheinen muß. -" (s. S. 14-15)

Der Spielbegriff

Aus der Erkenntnis dieser gleichen Muster kommt der Autor zum Begriff des Spiels als Einheit:

"Hieran allein schon (aber auch weiter noch durch das, was späterhin dazu beigebracht werden wird) zeigt sich, daß die Sprache selbst das Wort "Spiel" bereits zu einem noch unbekannten Zeitpunkt in seiner heutigen Bedeutung aufgenommen hat; "Spiel" als Begriff ist späte Verschmelzung, späte Verquickung von ursprünglich anders lautenden einzelnen Dingen, die ihre eigene Bezeichnung hatten. Das Spiel als eine Einheit zu sehen und aufzufassen, muß daher bereits eine späte und verhältnismäßig schon sehr bewußte Konstruktion sein." (s. S. 16)

Er folgert daraus:

"Die Schwierigkeit liegt vielleicht sogar gerade heute mit darin, den richtigen Gegensatz zum Spiel zu finden und deutlich zu formulieren. Alle Systemaktik ist zwar in irgendeiner Weise bereits gewählt, ein zwanghaftes Kategorieschema, das der Wirklichkeit oder der Sprache auferlegt wird; die wirkliche Ordnung der Dinge wächst stets von selbst. Indessen liegt hier vielleicht wirklich der wesentliche Punkt: der Spielbegriff scheint in unsere augenblickliche [nationalsozialistische?, Anmerkung der Red.] Weltordnung irgendwie nicht hineinzupassen. Er widerstrebt jeder Zweckbetrachtung, ist aber doch irgendwie, biologisch oder auch anders gesehen, zweckmäßig dem Plan der Natur eingeordnet." (s. S. 17)

 

Fotos und Bilder: Wikipedia, Pixabay