An die Erkundung der Natur des Spiels kann man wohl kaum umfassender herangehen als Brian Sutton-Smith. Mit Fug und Recht kann der gebürtige Neuseeländer, der in seiner Heimat zunächst als Lehrer arbeitete, bevor er eine akademische Laufbahn in den USA einschlug, als der Dritte im Bunde der bedeutendsten Spieltheoretiker der jüngeren Zeit betrachtet werden, der als einer der ersten Wissenschaftler die Erforschung des Spiels als ernstzunehmende Disziplin betrieb. Wie Huizinga und Caillois ging auch Sutton-Smith der Frage nach, welche Aktivitäten als Spiel zu klassifizieren seien oder welche Qualitäten eine Aktivität aufweisen muss, damit sie als „spielerisch“ einzustufen sei.
Zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen betrachten das Phänomen "Spiel"
Für Brian Sutton-Smith sind Spiele vielschichtig und vieldeutig, wissenschaftlich schwer in den Griff zu bekommen. Eine Spieltheorie müsse daher von der Einsicht in die Ambiguität von Spielen getragen sein. Daher suchte Sutton-Smith nicht nach einer Definition, nach Wesens- oder Strukturmerkmalen des Spiels. Stattdessen richtet er sein Augenmerk auf spielbezogene Diskurse und ihre wissenschaftlichen Vertreter, die jeweils eigene Rhetoriken („rhetorics“) vom Spiel ausbilden. Denn jede Wissenschaft, die über Spiele nachdenkt, entwickelt eine Art von „Arbeitsdefinition“ ihres Betrachtungsgegenstandes. Anthropologen, Soziologen, Psychologen, Historiker, Zoologen, Philosophen haben – wie jede andere Wissenschaft – ihre eigene Auffassung vom und Perspektive auf das Spiel. Wann immer Wissenschaftler einer Disziplin vom Spiel sprechen, so meint Sutton-Smith, dann gehen sie stets davon aus, dass es grundsätzlich entweder eine Form des Fortschritts, das Vertrauen auf das Schicksal, die Ausübung von Macht, ein Identitätsanspruch, ein Ausdruck der Imagination, die Manifestierung von Selbsterfahrung oder eine Form der Frivolität ist.
Sieben Rhetoriken des Spiels
In seinem 1997 erschienenen Buch The Ambiguity of Play beschreibt Sutton-Smith entsprechend die folgenden sieben Rhetoriken und liefert damit einen umfassenden Überblick über die Arten und Weisen, wie gesellschaftlich über Spiele gesprochen und gedacht wird:
· Rhetorik des Fortschritts („Rhetorics of Progress“): Auch wenn Spiel wie triviale Unterhaltung oder Erholung erscheint, so werden im Spiel jene Fähigkeiten ausgebildet und eingeübt, welche im Verlauf des Lebens von Bedeutung sind. Die Rhetorik des Fortschritts stellt die entwicklungsbezogenen Aspekte des Spiels in den Vordergrund und dreht sich um die Idee, dass Kinder und Tiere, nicht aber Erwachsene, durch das Spiel lernen.
· Rhetorik des Schicksals („Rhetorics of Fate“): Das Spiel veranschaulicht, wie das menschliche Leben von einer Art Schicksal kontrolliert wird. Es ist nicht die menschliche Autonomie, sondern es sind Götter, Glück oder Zufälle, die die Zügel in der Hand halten. Demzufolge dient das Spiel auch als Metapher für das Unbeständige, Unbestimmte, Unvorhersehbare und Chaos. Angewandt wird diese Rhetorik gewöhnlich auf Glücksspiele.
· Rhetorik der Macht („Rhetorics of Power“): Spiel dient der Repräsentation von Konflikt und als Weg, den Status derjenigen zu stärken, die das Spiel kontrollieren und aus ihm als deren Helden hervorgehen. Die Rhetorik der Macht bezieht sich zumeist auf eine der beiden wichtigsten Formen des Wettbewerbs in Gesellschaften: jener der körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten. Die Rhetorik der Macht anerkennt, dass das Spielkonzept nicht nur auf Kinder angewandt werden kann, sondern nimmt auch Erwachsene in den Blick und äußert sich beispielsweise im Sport, aber etwa auch in der Spieltheorie.
· Rhetorik der Identität („Rhetorics of Identity“): Spiel wird bei dieser Rhetorik als Mittel betrachtet, soziale Identitäten zu konstruieren und zu bekräftigen. Gemeinschaftliche Feierlichkeiten, Feste, Paraden und andere Massenspektakel dienen dem Zusammenhalt, der Zurschaustellung und Bestätigung von Mitgliedschaft und Traditionen einer Gemeinschaft.
· Rhetorik der Fantasie („Rhetorics of the Imaginary“): Diese Rhetorik ist äußerst heterogen, immer aber wird dabei davon ausgegangen, dass irgendeine Art von Transformation das grundlegendste Merkmal von Spielen ist. Daher bedient man sich etwa in der Kunst dieser Rhetorik, die Imagination, Flexibilität und Kreativität in den Mittelpunkt stellt.
· Rhetorik des Selbst („Rhetorics of Self“): Als Antwort auf den Individualisierungstrend sieht die Rhetorik des Selbst die Grundlage des Spiels in der Psyche des individuellen Spielers. Die Bedeutung des Spiels leitet sich von den subjektiven Erfahrungen des Spielers ab, der auf der Jagd nach Spaß, Erholung oder einer Flucht aus dem Alltag ist. Im Zentrum der Betrachtung stehen bei dieser Rhetorik einsame Aktivitäten wie etwa Hobbys oder Phänomene wie Bungee-Jumping, die ein Höchstmaß an Stimulus bringen.
· Rhetorik der Frivolität („Rhetorics of Frivolity“): Die siebte Rhetorik stellt gewissermaßen eine Antithese zu den vorgenannten sechs Rhetoriken dar: Sie betrachtet Spiel als grundsätzlich nutzlos und beruht auf der grundlegenden Unterscheidung von Spiel und Arbeit. Als Gegenpol zur Arbeit wird Spiel als freiwillig, unterhaltsam, unernst und unproduktiv, als Zeitverschwendung, Müßiggang, Trivialität und Frivolität dargestellt.
Die sieben von Sutton-Smith identifizierten und beschriebenen Rhetoriken haben jeweils ihre eigenen Funktionen, beziehen sich auf jeweils eigene Spielformen, weisen bestimmte Arten von Spielern auf und bilden den Kontext ganz bestimmter akademischer Disziplinen. Zudem unterscheidet Brian Sutton-Smith historisch antike und moderne Rhetoriken. Während in der Moderne Diskurse vom Spiel als Fortschritt, als Ausdruck des Imaginären und als Verwirklichung des Selbst dominieren, drehten sich Diskurse vom Spiel in der Antike vorrangig um die Repräsentation von Schicksal und Macht, als Ausdruck gemeinschaftlicher Identität und Frivolität. Sutton-Smith sieht Zusammenhänge zwischen der Komplexität einer Gesellschaft und der Komplexität ihrer Spiele; was eine Gesellschaft beschäftigt und ausmacht, spiegelt sich im Spiel. So geht es etwa in den antiken Rhetoriken stärker um Gruppen als um Individuen. Die älteren Rhetoriken sieht er als kruder an, weniger passend zum modernen rationalen Leben – insbesondere gilt dies für die Rhetoriken des Schicksals und der Frivolität. Den älteren Formen des Spiels liegt zudem stärker extrinsische Motivation zugrunde, sie können durchaus auf Zwang beruhen und laufen daher dem modernen Glauben an die Freiwilligkeit des Spiels als grundlegende Voraussetzung zuwider.
Spiel als „adaptive Variabilität“
Brian Sutton-Smith belässt es natürlich nicht bei einer Synopse von Spieltheorien, sondern fügt den daraus destillierten sieben Rhetoriken eine eigene Rhetorik an. Diese speist sich aus der Beobachtung der außerordentlichen Menge an Spielkonzepten und der Vielzahl unterschiedlicher Ambiguitäten, die beim Nachdenken über das Spiel offenkundig werden. Es ist vielleicht die immense Vielfalt und Variabilität, so Sutton-Smith, die allen Spielen gemeinsam ist. Auch weil Variation ein Schlüsselkonzept in Biologie und Evolutionstheorie ist, bildet dieser Aspekt einen lohnenswerten Startpunkt, um das Phänomen Spiel greifbarer zu machen.
Brian Sutton-Smith begreift Spiel als „adaptive Variabilität“. Das Spiel stellt eine Arena bereit, innerhalb derer neue Alternativen erprobt werden können. Spiel ist somit eine Aktivität, die das menschliche Anpassungspotenzial erhöht, weil es kulturelle Variabilität hervorbringt. Daher hat für Brian Sutton-Smith das Spiel einerseits eine konservierende Funktion, weil Werte und Verhaltensweisen spielerisch durch Einüben erhalten werden. Andererseits erweitert das Spiel das adaptive Verhaltenspotenzial und bringt neue Reaktionsweisen hervor. Weil man sich im Spiel dem Neuen, Unbekannten stellt, wird spielerisch auch die Erfahrung der Innovationsfähigkeit gemacht. Weil Spielaktivitäten das Gehirn in einer Weise stimulieren, die seine „Plastizität“ fördern, attestiert Sutton-Smith dem Spiel auch eine positive Funktion für die individuelle Entwicklung.
Sutton-Smith präsentiert das Spiel also gewissermaßen als Spielwiese, auf der man im Dienste des gemeinschaftlichen und individuellen Fortkommens Narrenfreiheit walten lassen kann. Gleichzeitig warnt er vor der heutigen Tendenz zur Idealisierung des Spiels, welches zu unbrauchbaren Zuschreibungen führe, wie etwa, dass das Spiel an sich positiv sei. Stattdessen meint Brian Sutton-Smith, das Spiel sei wie Sprache: ein System von Kommunikations- und Ausdrucksformen, das an sich weder gut noch schlecht ist.
Spielen erhält uns den Optimismus
Trotzdem stellt sich auch für Brian Sutton-Smith immer wieder die Frage "Warum spielt der Mensch?" neu (als Spielforscher wird man dies auch in fast jedem Interview gefragt...). Für die Fachzeitschrift "Sozialpädagogik" vom Juli 1996 beantwortete er diese Frage wie folgt:
"Es geht beim Spielen nicht etwa um die Erkenntnis, daß Spielen wichtig für die Entwicklung des einzelnen ist, daß es bestimmte Fähigkeiten trainiert und Freude macht. Das stimmt unbestritten. Nein, die eigentliche Sensation und vielleicht der Urgrund, warum die Natur das Überlebenstrainung im Spiel erfunden hat, ist: Spielen erhält uns den Optimismus! Hätten wir diese, oft amorphe, wenig erfüllbare erscheinende Hoffnung auf "Alles wird gut" nicht, würden wir nach dem erstbesten Scheitern nie wieder einen Versuch wagen. Wir wären verloren und die Pessimisten würden Seite an Seite mit den Zynikern die Welt untergegen lassen." (s. S. 160-161)
Ohne das Spiel wären wir nicht vollständige Menschen. Die Zuversicht der kleinen Kindern machen es uns deutlich. Manchmal geht es sogar so weit, dass wir von einer wohl gut tuenden Selbstüberschätzung sprechen können. Häufiges, ständiges Scheitern kann eine Kinderseele nicht erschüttern. Kleine Kinder stehen nach dem Hinfallen immer wieder auf, bis sie das Laufen gelernt haben, bis sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden dieser Welt stehen. In dem wir also immer wieder und immer wieder voller Optimismus versuchen, unerschütterlich die erst unerreichbar erscheinenden Herausforderung anzunehmen, um so besser werden wir, um so sicherer können wir unser neues Verhalten anwenden.
Grußwort zur Eröffnung des Deutschen SPIELEmuseums 1995 von Brian Sutton-Smith
"Liebe Spielerinnen und Spieler,
ich begrüße Sie alle mit großem Vergnügen in der Welt der Spielerinnen und Spieler, die, die spielen, die, die das Spiel erforschen und die, die Spiele sammeln.
Menschen, die spielen, gehören zu den glücklichsten in unserer Welt. Spiel ist das Gegenteil von Langeweile haben oder ängstlich und bedrückt sein. Wir wissen, dass diejenigen, die spielen, zu den geistig gesündesten Menschen gehören und die, die nicht fähig sind zu spielen, oft zu den unglücklichsten und manchmal gestörten Menschen gehören.
Für einen kurzen Augenblick sind wir alle unsterblich während wir spielen. Spiel und Religion haben die Ahnung gemeinsam, dass es tatsächlich ein Leben jenseits dessen gibt, was wir normalerweise führen. Dieses phantasievollere Leben ist modellhaft dargestellt in Spielen. In Spielen des Zufalls, in Spielen der Strategie und in Spielen der Fähigkeiten und Fertigkeiten. Diese drei Spielprinzipien charakterisieren zugleich die grundsätzlichen Schwierigkeiten des menschlichen Lebens.
In den Spielen des Zufalls tun wir so, als ob wir dem Schicksal die Stirn bieten können, und dass wir überleben, auch angesichts unvermeidlichen Verlustes. Wir sind nun einmal sterblich und darum langfristig Verlierer, aber in den Zufallsspielen bestreiten wir mutig diese Tatsache.
In den strategischen Spielen machen wir uns glauben, dass wir die Stirn und Intelligenz haben, auch die klügsten und teuflischsten Gegner zu besiegen. Wir lernen zu planen und Täuschungen zu vermeiden.
In den Spielen der Fähigkeiten und Fertigkeiten geben wir vor, dass wir die physische Kraft haben, die allerbesten zu sein. Wir lernen, dass wir mit Schnelligkeit, Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer unsere Probleme meistern können. Wenn wir so tun als ob, so ist das nicht das gleiche, als wenn wir es tun - aber es erweckt in uns den Optimismus, dass wir tatsächlich das tun könnten, was wir in der Welt der Spiele geübt haben.
Die große Bedeutung einer Präsentation dieser drei Spielprinzipien in einem Museum liegt darin, dass die Spielerinnen und Spieler auf einer höheren Ebene Meta-Spielerinnen und Spieler werden, dass heißt, sie sind nicht mehr nur Spielerinnen und Spieler, sondern Menschen, die verstanden haben, dass diese Spiele ein Spiegel ihrer Lebensfragen sind.
Diese Erfahrung bringt nicht nur Glück und die Freude des Spiels, sie führt auch dazu Weisheit zu erlangen."
Brian Sutton-Smith, 1995
Video-Konferenz zu digialen Spielen 2003
Video-Konferenz mit Brian Sutton-Smith (Digital Games Research Association, DiGRA 2003) zu Computerspielen (digital Games), 49:37 Min.: Hier.